Jeden Tag, jede Minute müssen wir, die Gesellschaft, unsere Stimme erheben. Ein weiteres Halle, ein weiteres Hanau können wir nur verhindern, wenn die guten Stimmen in der deutschen Gesellschaft so etwas nicht noch einmal geschehen lassen.“
Rabbiner Jeremy Borovitz
Die Frage nach dem Motiv, aus dem heraus ein Mensch ermordet oder tödlich verletzt wurde, ist nicht nur für die Hinterbliebenen und Überlebenden von zentraler Bedeutung. Das Motiv ist entscheidend für die juristische, moralische und damit die gesellschaftspolitische Wahrnehmung und Bewertung einer Tat. Verweigert der Staat die Anerkennung politischer Motive, verstehen die Hinterbliebenen und Überlebenden das meist als fehlendes Interesse, aufzuklären, WARUM es überhaupt zu der tödlichen Gewalt gekommen ist. Die Verbrechen werden stattdessen in der öffentlichen Wahrnehmung entpolitisiert und damit nicht angemessen gewürdigt.
FOLGEN MANGELNDER ANERKENNUNG FÜR HINTERBLIEBENE UND ÜBERLEBENDE
Semiya Şimşek, die Tochter von Enver Şimşek, dem ersten Mordopfer des sogenannten Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU), macht auf einen weiteren wichtigen Aspekt aufmerksam: „Die Ungewissheit ist schwer auszuhalten, denn sie überschattet alles. Sie macht es unmöglich, sich auf die Trauer und den Schmerz einzulassen und ein unbelastetes Andenken an den Gestorbenen zu bewahren. Ohne Antwort kommen die Gedanken nie zur Ruhe.“ Die fehlende Anerkennung steht der Trauer enorm im Weg und erschwert es massiv, Abschied nehmen zu können.
Insgesamt erzeugt die fehlende staatliche Anerkennung bei vielen Ohnmacht, Enttäuschung und Wut. Trotzdem werden Hinterbliebene, Überlebende und ihre Unterstützer_innen nicht müde, sich für die Aufklärung der politischen Hintergründe der Taten stark zu machen. Und sie haben in den letzten Jahren viel erreicht.
LÜCKEN IN DER STAATLICHEN STATISTIK
Die jahrelange Bagatellisierung der Taten durch Behörden, lokale Autoritäten, Politiker_innen und örtliche Medien hat Folgen. In der bundesweiten Statistik „Politisch motivierte Kriminalität-rechts“ (PMK), die die öffentliche Wahrnehmung prägt, fehlen noch immer viele Todesopfer. Die Diskrepanz zwischen der staatlichen Statistik einerseits, und den verschiedenen Dokumentationen bzw. Chroniken von engagierten Journalist_innen, politischen Aktivist_innen und zivilgesellschaftlichen Organisationen andererseits, ist weiterhin sehr groß.
Polizei und Gerichte spiegeln den Stand der gesellschaftlichen Auseinandersetzung mit rechter Gewalt wider und wirken gleichzeitig richtungsweisend auf sie ein. Die nachträgliche Anerkennung der Todesopfer rechter Gewalt durch staatliche Stellen, wie beispielsweise in Brandenburg 2015 geschehen, ist deshalb ein wichtiger Schritt, um das Ausmaß rechter Gewalt sichtbarer zu machen. Sie trägt auch dazu bei, dem Bedürfnis der Hinterbliebenen nach Aufklärung gerecht zu werden.
EIN WEITERHIN AKTUELLES PROBLEM
Nach wie vor ignorieren viele Politiker_innen die Vielzahl rechter Tötungsdelikte und ihre strukturellen Ursachen. So meinte etwa der Experte für Innenpolitik Armin Schuster (CDU) 2019, der Mord an Walter Lübke sei „der erste rechtsextremistische Mord seit dem Kriegsende“ gewesen. Ein anderes Beispiel: Erst unabhängige wissenschaftliche Gutachten sorgten dafür, dass das Attentat am Olympia-Einkaufszentrum in München 2016, bei dem neun Menschen ums Leben kamen und fünf Personen verletzt wurden, als rassistisch motivierte Tat eingestuft wurde. Diese Einstufung erfolgte erst im Oktober 2019.
BEITRÄGE ZUR ANERKENNUNGSDEBATTE
Auf dieser Seite finden sich Texte über
- den jahrzehntelangen Kampf um Anerkennung,
- die Probleme des polizeilichen Erfassungssystems und der gerichtlichen Bewertung von rechten Tatmotiven,
- sowie die Beurteilung der in den letzten Jahren erreichten Reformen.
weiterführende Informationen
Mehr als nur Statistik – Der Kampf um Anerkennung
Erfahrungen aus Brandenburg
Judith Porath und Joschka Fröschner
Seit vielen Jahren kämpfen Aktivist_innen, Überlebende und Hinterbliebene um die staatliche Anerkennung der politischen Tatmotive. Warum die Anerkennung der Todesopfer rechter Gewalt und das Erinnern an sie wichtig ist wird im Artikel beleuchtet.
Die Reform der PMK-Definition und die anhaltenden Erfassungslücken zum Ausmaß rechter Gewalt
Heike Kleffner, IDZ, Schriftenreihe „Wissen schafft Demokratie“ – Band 4/2018
Das polizeiliche Erfassungssystem wurde 2017 erneut reformiert. Problematisiert werden nach wie vor bestehende dramatische Abweichungen zwischen den staatlichen Zählungen von Opfern rechter Gewalt und den zivilgesellschaftlichen bzw. journalistischen Zählungen.
Tribunal NSU-Komplex Auflösen
Das Tribunal, getragen von dem bundesweiten Aktionsbündnis ‚NSU-Komplex auflösen‘ sowie von einer Vielzahl Einzelpersonen, ist ein erfolgreiches Beispiel wie Betroffene, Hinterbliebene und ihre Unterstützer_innen solidarisch zusammenarbeiten, um die Akteur_innen des NSU-Komplex mitsamt ihrer institutionellen Einbettung anzuklagen. Dabei stehen die Berichte der Betroffenen und Angehörigen im Mittelpunkt. Sie gilt es zu hören und zu verstehen.
Sozialdarwinistische Zustände
Lucius Teidelbaum
Obdachlose sind die vergessenen Opfer der Gesellschaft. Sie werden von Staat und Gesellschaft ausgegrenzt und auf der Straße angegriffen. Rechte Täter_innen praktizieren gegen obdachlose Menschen einen Sozialdarwinismus der Tat, der durch einen Sozialdarwinismus des Wortes vorbereitet wird.
Chronik Todesopfer rechter Gewalt
Langzeitprojekt von Tagesspiegel und ZEIT online
Ein Rechercheteam von Tagesspiegel und ZEIT online recherchiert und dokumentiert seit vielen Jahren in einem Langzeitprojekt rechte Tötungsverbrechen seit 1990.
Buchtipp: RASSISMUS.MACHT.VERGESSEN.
Von München über den NSU bis Hanau: Symbolische und materielle Kämpfe entlang rechten Terrors
Der Band beschäftigt sich mit mangelnder Repräsentation, sich verändernder Gedenkkultur, strukturellen Rassismus, Behördenblindheit und fragt wo wir im Kampf gegen rechten Terror stehen.
Onur Suzan Nobrega, Matthias Quent, Jonas Zipf (Hg.), transcript Verlag, Bielefeld, 2021, 19,90 €
Der Minister: Keine Welle! Der Bürgermeister: Weggucken. Die Polizisten: Opfer anketten
Frank Jansen, Tsp. 31.12.1996
Rechtsradikale Gewalt hat 1996 erneut Brandenburg überrollt – die Behörden übten sich oft in Verharmlosung, die Bevölkerung blieb meist ungerührt…
Der Artikel bietet einen guten Einblick zur Situation Mitte der 1990er Jahre in Brandenburg.
Dem Vergessen entrissen
Potsdamer Neuste Nachrichten, 30.6.2015
Brandenburg hat 2015 neun Todesopfer rechter Gewalt nachträglich anerkannt. Die PNN dokumentiert einige ausgewählte Fälle und die Ergebnisse der Recherchen von Tagesspiegel und ZEIT online sowie der Überprüfung des Moses Mendelssohn Zentrums – und die Schwierigkeiten der Bewertung
Änderung tut not! Über die Malaise der polizeilichen Erfassung politisch motivierte Kriminalität in Deutschland
Marc Holzberger
Das polizeiliche Erfassungssystem für politisch motivierte Kriminalität (PMK) ist intransparent und öffentlich nicht nachvollziehbar. Mark Holzberger hat zahlreiche parlamentarischen Anfragen und anderen Dokumenten ausgewertet, auf deren Grundlage er die Kriterien für die Erfassung darstellen und auf ihre Tauglichkeit prüfen kann.