Dass der Überfall auf Belaid Baylal und seine tödlichen Folgen überhaupt an die Öffentlichkeit kam, ist der Berliner Journalistin Heike Kleffner zuzuschreiben, die gemeinsam mit einem Kollegen des Berliner „Tagesspiegel“ rassistisch motivierte Übergriffe bzw. ungeklärte Todesfälle recherchierte und dokumentierte. Antifaschistisch gesinnte Jugendliche aus Belzig griffen das in der „Frankfurter Rundschau“ publizierte Material auf und wandten sich damit via Lokalpresse an die Öffentlichkeit.
Am 5. November 2001, genau ein Jahr nach Belaids Tod, wird der Überfall erstmals im „Fläming-Echo“ der MAZ beschrieben. „Der Angriff auf den Marokkaner vor nunmehr acht Jahren ist bestenfalls Beteiligten und Zeugen in Erinnerung. Gesprochen oder geschrieben wurde darüber seinerzeit aus nicht mehr nachvollziehbaren Gründen nicht. Ein Jahr nach dem Tod an den Spätfolgen dieser gewalttätigen Auseinandersetzung kommt die Geschichte des Opfers doch noch auf den Tisch. Zu Recht, sie ist Warnung“, gibt der kommentierende Redakteur des Blattes die Richtung vor. Doch der Artikel bleibt ohne Nachhall, löst bestenfalls verhaltenes Erschrecken aus, wie sich Lukas Kriegler als einer der engagierten Jugendlichen später erinnert. Die Jugendlichen sind enttäuscht über das Schweigen in ihrer Stadt. Im April 2002 wendet sich der Verein Belziger Forum e.V., Träger der Begegnungsstätte Info-Café, in der auch die Jugendlichen aktiv sind, mit einem Antrag an die Belziger Stadtverwaltung. Die Mitglieder fordern einen Gedenkstein für den getöteten Asylbewerber und damit verbunden einen offenen Diskurs zu Gewalt und Fremdenfeindlichkeit in der Stadt.
Am 4. November 2002 wenden sich die Jugendlichen um Lukas Kriegler erneut an die Lokalzeitung und machen ihr Bemühen um den Stein und ein teilnehmendes Gedenken der Bürger öffentlich. Am 2. November, es jährt sich zum zweiten Mal der Tod Belaid Baylals, findet im Belziger Rathaus eine reguläre Stadtverordnetenversammlung statt. Auf der Tagesordnung steht auch der Bericht des Koordinators gegen Gewalt und Fremdenfeindlichkeit Götz Dieckmann. Dieser konstatiert einen leichten Rückgang fremdenfeindlich motivierter Auseinandersetzungen und weiß auch Beispiele engagierter Solidarität mit zwei von Abschiebung bedrohten vietnamesischen Jugendlichen und ihren Familien zu berichten. Vor allem aber nutzt er die Gelegenheit, die Stadtverordneten über den Fall Belaid Baylal zu informieren und sie für die Initiative der Jugendlichen zu sensibilisieren,wie zwei Tage später im „Fläming-Echo“ nachzulesen ist. Bürgermeister Peter Kiep bestätigt das Vorliegen des Antrags, der derzeit noch geprüft werde.
Da dies bereits sechs Monate dauert, beschließen die Jugendlichen der Antifa-Gruppe, mehr Öffentlichkeit herzustellen und organisieren drei Wochen später, am 25. November 2002, eine Podiumsdiskussion im Jugendfreizeitzentrum der Stadt. Thema: Wie gehen Kommunen mit Rassismus um? Gesprächspartner sind Mitarbeiter einer Flüchtlingshilfeorganisation, Belaid Baylals Anwalt Martin Rubbert, der in Belzig lebende Kameruner Jean-Marce Banoho, der städtische Beigeordnete Martin Kunze. Moderiert wird die Veranstaltung von der eingangs erwähnten Journalistin Heike Kleffner, die den Fall Baylal ins Leben zurückholte.
Als dessen Anwalt aus autobiografischen Aufzeichnungen seines Mandanten liest und Einblicke in dessen politisches Leben und seine Gedankenwelt ermöglicht, gelingt es erstmals, den Toten aus seiner Anonymität zu holen und hinter dem Fall Baylal einen Menschen sichtbar werden zu lassen, der selbstbestimmt lebte und handelte und mehr war als nur ein erschlagenes Opfer. Dies berührt die zahlreich versammelten Teilnehmer ebenso wie es sie erschreckt, dass niemand im Saal den Marokkaner persönlich kannte, obwohl er fast ein Jahrzehnt in der kleinen Stadt lebte. Wie soll man in der Bevölkerung das Interesse für einen Toten wecken, wenn es nicht einmal eine Brücke zu den lebenden 200 Asylbewerbern in der Stadt gibt?, fragt ein Teilnehmer des Forums. Und die Mehrheit ist einig: Die Stadt braucht den Stein vor allem für sich selbst. Als „Stein des Anstoßes“. Für das Verarbeiten der eigenen Vergangenheit und um eine teilnehmende Mitbürgerschaft überhaupt leben zu können.
Der Antrag des Vereins Belziger Forum e.V., der auch eine Beschreibung des möglichen Standortes inklusive Lageskizze enthält, wird durch die PDS-Fraktion auf die Tagesordnung der Stadtverordnetenversammlung gesetzt, die am 9. Dezember 2002 erneut tagt.
„Mit einem geschickten Schachzug der SPD-Fraktion ist am Montagabend die erwartete Entscheidung über die vom Verein „Belziger Forum“ beantragte Errichtung eines Gedenksteines für den marokkanischen Asylbewerber Belaid Baylal verhindert worden“, informiert das „Fläming-Echo“ der MAZ vom 12.12.02 unter dem Titel „Papier statt Stein.“ Die Sozialdemokraten versuchen den konkreten Fall zu anonymisieren und schlagen die Schaffung einer zentralen Gedenkstätte „Die Toten mahnen“ vor. Des Weiteren soll die Verwaltung mit der Erarbeitung eines Konzepts zum Umgang mit den fünf bestehenden Gedenkstätten in der Stadt beauftragt werden. Ein weiterer Stein allein nütze nichts im Kampf gegen Neonazis und Gewalt, zitiert die Zeitung den Fraktionsvorsitzenden Gerd Ulbrich. Die PDS hält dagegen und will den Baylal gewidmeten Stein auf dem Areal der vorhandenen Gedenkstätte zu Ehren der Opfer des Faschismus an der Post gesetzt wissen. Nicht zuletzt deshalb, weil auch Baylal ein Opfer des Faschismus heutiger Zeit geworden sei, argumentiert PDS-Fraktionschef Lothar Petersohn.
Die Abgeordneten von CDU und FDP und auch die Fraktion der Parteilosen äußern sich nicht.Da der Antrag der SPD-Fraktion weitergehend ist, kommt der des Belziger Forum e.V. gar nicht erst aufs Tapet. Die Stadtverwaltung gibt sich ein Vierteljahr Zeit, um das Gedenkstättenkonzept zu erstellen.
„Unverrichteter Dinge zogen Initiatoren und Sympathisanten des Gedenksteins, darunter Götz Dieckmann, Koordinator gegen Gewalt und Rechtsextremismus, der Rietzer Maler Walter Lauche und Ramona Stucki vom Info-Café Der Winkel aus dem Saal. Dieckmann hatte den Stadtverordneten zuvor noch Weisheit gewünscht, Lauche seine Hilfe beim Organisieren eines passenden Steins angeboten und Stucki die Übernahme der Pflege der Gedenkstätte versprochen“, schließt das „Fläming-Echo“ vom 12.12.02.
Knapp drei Wochen später zeigt sich, wie notwendig ein offener politischer Diskurs in dieser Stadt ist. In der Silvesternacht wird auf das Info-Café ein gezielter Brandanschlag ausgeübt, bei Koordinator Dieckmann häufen sich Beschwerden von Spätaussiedlerfrauen über verbale und tätliche Angriffe auf ihre Kinder. Er fordert die Einberufung eines neuen Belziger Forums gegen Rechtsextremismus und Gewalt, eine aus aktuellem, meist besorgniserregendem Anlass zusammentretende Bürgerversammlung ohne hierarchische Strukturen, die jeweils vom Bürgermeister einberufen wird. Gegenüber der Presse betont er am 7. Januar 2003, dass auch das Kapitel des verstorbenen marokkanischen Asylbewerbers für ihn noch nicht abgeschlossen sei. (Das Forum wird am 9. Juli einberufen und beschäftigt sich thematisch mit der problematischen Integration der Spätaussiedler, einer NPD-Demo in Belzig am 10. Mai und am Rande auch mit dem Gedenkstein für Baylal, für den es dann bereits eine Entscheidung gegeben hat.) Seine mahnende Verantwortung als Koordinator nimmt Götz Dieckmann auch am 20. Januar 2003 wahr, als er wieder in der Stadtverordnetenversammlung auftritt und die Fraktionsvorsitzenden zu einem klaren Ja oder Nein auf die Frage nach dem Gedenkstein auffordert.
„Eine klare Antwort blieb jedoch aus. Dies zu klären, sei aus „verfahrenstechnischen Gründen noch nicht möglich“, so Bürgermeister Peter Kiep [SPD]. (MAZ, 22.01.03) Auf den Leserbriefseiten der Lokalzeitung entbrennt eine für Belzig ungewöhnlich intensive Debatte um den Stein. Zu Wort melden sich eigentlich nur Befürworter, die der Stadtverwaltung vorwerfen, mit dem in Auftrag gegebenen Gutachten Geschäftigkeit vortäuschen und die Sache verzögern zu wollen.
Am 22. April fällen die Stadtväter dann doch eine Entscheidung. Ob das medizinische Gutachten, das die Todesursache zweifelsfrei bestätigte, den Ausschlag gab oder die Ankündigung des Initiativkreises, in jedem Falle und sei es auf privatem Gelände einen Gedenkstein errichten zu wollen: Die Abgeordneten votieren einstimmig (!) für den Antrag.
Einen geeigneten Stein gibt es bereits. Ein Luckenwalder Steinmetz ist bereit, die Inschrift zu gravieren. Diskussionen gibt es nur noch um den geeigneten Standort. Auch hier wird letztlich dem Wunsch der Initiierenden entsprochen, dass der Stein für Belaid mit dem für die Opfer des Faschismus an der Post korrespondieren soll. Dieser wurde als erster Gedenkstein Belzigs nach dem Zweiten Weltkrieg errichtet und trägt die Inschrift „Die Toten mahnen.“ Der neue Stein soll neben dem Namen des Asylbewerbers und seinen Lebensdaten den Schriftzug “Die Toten mahnen immer noch“ zeigen. Und so geschieht es auch.
Am 4. November 2003 erklingt leise Flötenmusik hinter der mannshohen Weißbuchenhecke, die keinen Blick auf die dahinter verborgenen Gedenksteine erlaubt, jedem Gedenkenden aber auch Besinnung und Stille ermöglicht. Es ist der dritte Todestag des Marokkaners. Menschen drängen sich schweigend in dem umwachsenen Dreieck, in dessen Spitze nun der tief eingegrabene graue Granit stumm Fragen aufwirft. Wer war Belaid Baylal? Und warum ist er gestorben, dass man ihm hier einen Stein widmet? Woher kam er? Was lebte und hoffte er, wofür schlug sein Herz? Was hatte er mit uns zu tun? Was haben wir zu tun? „Keine Gewalt zulassen“, sagt der Bürgermeister und spricht von einem für Belzig „bemerkenswerten Ereignis“ und davon, dass „der Stein immer einen Ehrenplatz in der Stadt behalten werde“. Ein Algerier liest eine Sure aus dem Koran, Kränze und Blumen werden niedergelegt. Eine späte Trauerfeier, wie sie Belaid Baylal unmittelbar nach seinem Tode vermutlich nicht gewidmet wurde, nachdem seine sterblichen Überreste nach Marokko überführt worden waren, wo es nur noch entfernte Verwandte zu geben scheint.
Ein langes Ringen ist zu Ende gegangen, der „Stein des Anstoßes“ steht. Mitten in der Stadt, auffordernd und zum Dialog ermunternd. Er symbolisiert nicht nur Gegnerschaft, sondern will Mut machen. Mut zur Akzeptanz der Aggressionen, die in jedem von uns stecken.Mut zum Streit, der in Frieden viel schwerer auszutragen ist als mit Gewalt in jeder Form. Mut zur Freundschaft und zum Loslassen der Vorurteile, mit denen wir uns selbstschützend ummauern. Mut, den Frieden zu versuchen.
Der Beitrag ist erschienen in der Broschüre „Zum Beispiel Belzig: Das Leben und Sterben des Belaid Baylal. Dokumentation einer Spurensuche“ und wird hier mit freundlicher Genehmigung der Herausgeber_innen, des Belziger Forum e.V. dokumentiert.