Die Gedenkseite fragt nach den Folgen des Todes von Farid Guendouls. Was geschah in jener Nacht? Wie wurde mit der Tat umgegangen? Wie reagierten Politik und Gescllschaft?
Die Zeitung erschien zum 10. Todestag von Farid Guendoul als Beilage der Lausitzer Rundschau und der 20cent in Cottbus und im Spree-Neiße-Kreis. Die erinnert an diese Ereignisse und soll Mut machen, nicht weg zu schauen, sondern aktiv gegen Rassismus und Rechtsextremismus Stellung zu beziehen.
In der Fallstudie werden der lokale, gesellschaftliche Kontext , die Motivationen und Feindbilder der Täter und die verschiedenen Reaktionen auf den Tod von Farid Guendoul dargestellt. Die Autorin war damals Mitarbeiterin der Opferperspektive, die gemeinsam mit der Anlaufstelle für Opfer rechter Gewalt Cottbus, die Überlebenden der Hetzjagd von Guben unterstützte.
Das Leben von Sans-Papiers und potentiellen Sans-Papiers ist nicht nur bestimmt von prekären Lebensbedingungen und ständiger Angst vor Abschiebung, auch die zunehmende rassistische Gewalt bedroht Gesundheit und sogar leben von Menschen ohne bzw. mit prekären Aufenthaltspapieren. Nach polizeilichen Statistiken wurden in dem östlichen Bundesland Brandenburg 1998 durchschnittlich alle vier Tage ein “Ausländer” gewalttätig angegriffen. In ganz Deutschland wurden bei diesen Angriffen laut BKA 387 Personen verletzt. Da sich viele aus Angst vor der Polizei, aus Angst vor Abschiebung, aus Verständigungsproblemen und in Unkenntnis ihrer Rechte scheuen, Angriffe anzuzeigen, dürfte die reale Zahl weit höher liegen.
Für die Täter spielt es dabei keine Rolle, ob ihr Opfer Asylbewerber, Sans-Papiers oder schwarzer Deutscher ist. Ihre Opferwahl wird bestimmt vom biologisch determinierten äußeren Erscheinungsbild, aus denen bestimmte Feindbilder konstruiert werden. Die Angriffe sind daher nicht in erster Linie “ausländerfeindlich” – so der deutsche Terminus – sondern rassistisch.
Mit freundlicher Genehmigung von Telegraph #102/103
Die Gewalttaten finden in einem gesellschaftlichen Kontext statt, der geprägt ist von rechtlicher Ausgrenzung, alltäglicher Diskriminierung und medienwirksamer rassistischer Stimmungsmache.
Wie sich diese Bedingungen lokal umsetzen und die Lebenswirklichkeit von Sans-Papiers und potentiellen Sans-Papiers bestimmen, wird am Fall des algerischen Flüchtlings Farid Guendoul deutlich. Farid Guendoul verblutete am 13. Februar 1999 in der kleinen ostdeutschen Stadt Guben an einer Verletzung, die er sich bei dem Versuch zuzog, vor einem, Hetzparolen grölenden Mob deutscher Jugendlicher zu flüchten. In der folgenden Fallstudie werden der lokale, gesellschaftliche Kontext des Falles, die Motivationen und Feindbilder der Täter und die verschiedenen Reaktionen auf den Tod Farid Guendouls dargestellt.
Es kann in diesem Rahmen nicht näher eingegangen werden auf die verschiedenen Untersuchungen zum Erstarken des Rechtsextremismus allgemein. Auch auf eine ausführliche Analyse rassistischer Mediendiskurse soll hier verzichtet werden. Erwähnt seien hier nur staatlich gestützte Kampagnen gegen “vietnamesische Zigarettenmafia” und “rumänische Kinderbanden”.
Die Fallstudie wird v.a. die lokalen Bedingungen betrachten. Zwei überregionale Faktoren müssen dennoch hier erwähnt werden: Der Tod Farid Guendouls wird überschattet von einer Unterschriftenkampagne der CDU für die Ablehnung der doppelten Staatsangehörigkeit, die in den Medien kolportiert wurde als “Unterschriftenkampagne gegen Ausländer”. Der Gesetzesentwurf zur Änderung des Staatsangehörigkeitsrechtes und die CDU- Unterschriftenkampagne entfachten eine leidenschaftlich geführte Diskussion zur Frage deutscher Identität, “was macht einen Deutschen zum Deutschen?”.
Schon 1996 begann der BGS im Rahmen des Grenzregimes an den EU-Außengrenzen in der Grenzregion, zu der auch Guben gehört, mit der Einrichtung von “Bürgertelefonen”, die es den Einwohnern erlaubt, “verdächtige Ausländer” sofort zu melden. Gegen Taxifahrer, die verdächtigt wurden, im Grenzgebiet zu Polen Personen ohne Aufenthaltsgenehmigung befördert zu haben, wurde strafrechtlich ermittelt. 1998 waren in diesem Zusammenhang über 50 Strafverfahren gegen Brandenburger Taxifahrern anhängig. Es wird den Taxifahrern nun allgemein nahegelegt, bei “verdächtigen Personen” den BGS zu informieren. Sans-Papiers werden hier durch polizeiliche Maßnahmen zu Kriminellen erklärt. Die rassistische Stimmung, die damit angeheizt wird, richtet sich nicht nur gegen Illegalisierte, sondern schließlich gegen alle “nicht-deutsch” aussehenden Menschen, mit legalem oder illegalem Aufenthalt, mit deutschem Pass oder ohne.
Situation in der Stadt Guben Sozio-Ökonomische Lage
Guben ist eine Kleinstadt von 26.500 Einwohnern in Brandenburg, rd. 100 km südöstlich von Berlin an der deutsch-polnischen Grenze. Vor 1989 war die Stadt ein wichtiger Textilstandort, nach 1989 wurden dann viele der Betriebe geschlossen oder verkleinert. Das Chemiefaserwerk beispielsweise, früher mit rund 7000 Arbeitskräften der größte Arbeitgeber, beschäftigt heute – im Besitz der Hoechst Gruppe – nur noch ein 10tel seiner früheren Belegschaft. Die Arbeitslosenrate liegt mit 23,5% (Landkreis Spree-Neiße 21,4%) noch über dem Brandenburger Durchschnitt von 18,8%. Wie viele kleinere Industriestädte der östlichen Bundesländer verzeichnet auch Guben nach 1989 eine bedeutende Abwanderungswelle. Ein Fünftel der Bewohner der ehemaligen “Wilhelm-Pieck-Stadt” Guben verließen nach der Wiedervereinigung die Stadt. Kinos, Kindergärten, Schulen, Krankenhäuser mussten finanzielle Kürzungen hinnehmen oder ganz schließen. Über 30% der Sozialhilfeempfänger sind unter 18 Jahren. Darüber hinaus ist ein weiterer erheblicher Teil der Bevölkerung in staatlichen Beschäfti-gungs- und Weiterbildungsmaßnahmen. Nach Schätzungen bedeutet dies, dass mehr als die Hälfte der Gubener Bevölkerung derzeit auf staatliche Versorgung angewiesen ist.1
Seit 1991 versucht die Stadt, ihren Standortvorteil an der deutsch-polnischen Oder-Neiße-Grenze vorteilhaft zu nutzen. Eine enge Partnerschaft mit dem polnischen Gubin2 wird intensiv gefördert. Die Wirtschafts-, Verkehrs- und Tourismusplanung findet bereits im engen Austausch statt. Ein 1998 fertiggestelltes gemeinsames Klärwerk und eine deutsch-polnische “Europaschule” zeugen von Erfolgen in der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit, für die dem Bürgermeister der Stadt vom polnischen Staatspräsidenten im Frühjahr 1999 das “Ritterkreuz” verliehen wurde. Dieses Jahr hat sich Guben auf der Expo 2000 als “Modellprojekt Eurostadt” vorgestellt.
Die Förderung deutsch-polnischer Zusammenarbeit stieß in der Gubener Bevölkerung allerdings nicht nur auf Zustimmung. Im Sommer 99 scheiterte ein Abwahlbegehren des “mittelständischen Stammtischs” gegen den Bürgermeister. Ihm wurde vorgeworfen, die Wirtschaftsförderung und Infrastrukturentwicklung Gubens zugunsten der Zusammenarbeit mit Gubins zu vernachlässigen.
Bei den Kommunalwahlen im September erhielten in Guben 30% SPD, ebenso die PDS und 21% die CDU.3 Auffällig ist das vergleichsweise hohe Abschneiden der PDS. Stark konservative bis rechtsradikale Organisationen sind zwar statistisch im Landkreis Spree-Neiße nicht bedeutend, jedoch in ihrer Mobilisierung anti-polnischer Ressentiments durchaus einflussreich.
Rechtsextremistische Szene
Schon 1987 und 1989 kam es in Guben zu Angriffen auf ausländische Chemiearbeiter aus Mocambique, Kuba und Vietnam. 1989 bis Ende 1992 formierte sich ein loser Zusammenhang von ca. 200 Skinheads4 als “Gubener Heimatfront” mit Kontakten zu dem inzwischen verstorbenen Neonaziführer Kühnen. Es kam zu Auseinandersetzungen mit antifaschistischen Jugendlichen und zu weiteren Angriffen auf Ausländer. Im August 1993 gründete sich der Kreisverband der “Nationalen e.V.”, später “Junges Nationales Spektrum” (JNS) mit dem Vorsitzenden Schwerdt.5 An dem 1994 von der Stadt zur Schlichtung der angespannten Lage ins Leben gerufenen “Runden Tisch der Jugend” saßen dann auch Vertreter der “Nationalen e.V.” und setzten sich für einen “nationalen Jugendclub” ein, unter ihnen einer der späteren Beteiligten an der Hetzjagd, Alexander Bode.6 Nachdem der “Nationalen e.V.” im Winter 97 mit einer Selbstauflösung seinem Verbot zuvor kam, organisierten sich “nationale” Jugendliche nun in der NPD, bzw. ihrer Jugendorganisation JN. So erwähnt der Verfassungsschutzbericht 1998, Schwerdt hätte in Guben einen breiteren Interessentenkreis für NPD-Veranstaltungen gewinnen können.7 Trotzdem gaben Polizei und Staatsschutz nach dem Tod Farid Guendouls bekannt, dass ihnen zwar eine “relativ starke rechtsradikale Klientel” bekannt sei, diese sei aber nicht organisiert und bisher v.a. durch Heil-Hitler-Rufe und Hakenkreuzschmierereien aufgefallen.8 Es seien unorganisierte Jugendcliquen, die “mittags noch nicht wissen, dass sie abends zu Verbrechern werden.”9
Größenangaben über den Kern der rechtsextremistischen Szene Gubens schwanken. Der Verfassungs-schutzbericht 1997 geht von fünf rechtsextremistische Gruppen mit jeweils 11 bis 20 Personen aus. Für die Tatzeit wird ein “harter Kern” von 15 bis 30 Personen im Alter von 14 – 20 Jahren genannt, zu denen noch ca. 150 Mitläufer zu rechnen sind.10 Treffpunkt der rechtsextremistischen Szene ist u.a. eine Tankstelle, die direkt neben der Disko liegt, an der die tödliche Hetzjagd auf Farid Guendoul ihren Ausgangspunkt nahm.
Situation der nicht-deutschen Bevölkerung
In der Stadt Guben leben insgesamt ca. 600 Menschen ohne deutschen Pass. Das sind 2,3% der Bevölkerung. Die größte Gruppe von ihnen, die Polen, verfügen über einen sehr engagierten eigenen Verband “Nadodrze”, einen deutsch-polnischen Kindergarten, eine deutsch-polnische Schule. Die Aktivitäten sind vielfältig und eine deutsch-polnische Zusammenarbeit wird von der Stadt sehr unterstützt. Eine weitere große Community ist mit ca. 100 Personen die der Vietnamesen. Ursprünglich im Chemiewerk beschäftigt, betreiben viele nun Einzelhandelsgeschäfte und Restaurants. Kontakte in die Mehrheitsbevölkerung sind eher vorsichtig, in kommunale Aktivitäten sind die Vietnamesen kaum eingebunden. Darüber hinaus wohnen in Guben noch einige Kubaner und Mosambikaner, auch sie ehemalige Chemiearbeiter. Viele von ihnen sind jetzt mit Gubenerinnen verheiratet.
Die 160 Asylbewerber Gubens wohnen im einstöckigen Gebäude der ehemaligen Kinderkrippe des Chemiefaserwerkes. Farid Guendoul lebte dort bis zu seinem Tod11 zusammen mit sechs Männern aus Sri Lanka, Togo und Algerien in einem 20 qm großen Zimmer. Eine Gemeinschaftsküche und gemeinschaftlich genutzte Sanitäranlagen befinden sich auf dem Gang. Das Wohnheim befindet sich geschützt von Maschendrahtzaun und elektro-gesicherten Toren am Rande des Industriegebietes. Die Sicherheitsanlagen waren nach der Eröffnung 1992 angebracht worden, als im Rahmen der “Asyldebatte” auch das Flüchtlingswohnheim in Guben mehrfach angegriffen wurde.
Das Wohnheim ist in Verwaltung einer GmbH, die vom Heimleiter David Nicette, der selbst von den Seychellen stammt, zu diesem Zweck gegründet worden war. David Nicette trat in den Wochen nach dem Tod häufig als Sprecher der Flüchtlinge auf und klagte die Polizei der Verharmlosung der Situation an. Unter den Bewohnern des Heimes selbst ist er umstritten. Am 17.3.00 wurde er unter dem Verdacht der Vergewaltigung einer minderjährigen Heimbewohnerin festgenommen.
Schon vor der Tatnacht gingen Heimbewohner nachts aus Angst vor Angriffen, wenn möglich, nur in Gruppen aus. Bewohner berichteten12 , dass sie sich durch den Maschendrahtzaun eher geschützt als eingesperrt fühlen. Es gibt nur wenige öffentliche Orte, wo sich die Asylbewerber nicht als störende Fremde fühlen. Die einzige Disko in Guben, die als „ausländerfreundlich“ bekannt ist, ist die Disko “Dance-Land” in Obersprucke13 . Dort wurde nach der Hetzjagd allerdings, aufgrund des Gerüchtes, die Flüchtlinge wollten einen Rachefeldzug starten, ein vierwöchiges Hausverbot für Flüchtlinge verhängt. Häufig ständen dort auch deutsche Jugendliche vor dem Diskoeingang und suchten Streit mit den ausländischen Gästen, so die Aussage des Diskobetreibers vor dem Landgericht. Auf der Straße und in den Supermärkten, in denen sie ihre Gutscheine einlösen dürfen, werden sie angestarrt, als kämen sie vom Mond, als seien sie keine Menschen, berichtete ein libanesischer Flüchtling auf einer der Gedenkveranstaltungen zum einjährigen Todestag Farid Guendouls. Sie hätten kaum Kontakt mir Deutschen, wenige von ihnen hätten – wie Farid Guendoul – eine Freundin in der Stadt.
Im Brandenburger Vergleich gehört das Wohnheim zu den besseren Heimen. Zwar ist die Ausstattung nur durchschnittlich, aber infrastrukturell ist das Heim relativ gut angebunden. Mangelnde Kontakte mit Einheimischen und rassistisches Alltagsverhalten werden von nahezu allen Flüchtlingen in Brandenburg beschrieben.
Öffentliche Räume und Akteure Ausländerarbeit
Nur wenige Städte in Brandenburg haben, wie Guben, einen eigenen, städtisch angestellten Ausländerbeauftragten, der auch für die Belange der Flüchtlinge ansprechbar ist. Eingeladen durch die Stadt Guben finden darüber hinaus unregelmäßig alle drei Monate Treffen eines “Ausländerkreises” statt, an dem verschiedene Träger der Jugendarbeit, die Kirchen, der Verband der Polen “Nadodrze” und die Ausländerbeauftragte des Kreises sowie der Stadt teilnehmen und Themen bzgl. der Ausländerarbeit der Stadt besprechen bzw. entsprechende Aktivitäten koordinieren.14 Daneben entstand vor den Brandenburger Kommunalwahlen ein “Forum gegen Fremdenfeindlichkeit und Gewalt Guben”, in dem sich unterschiedliche Vereine und interessierte Einzelpersonen der Stadt zur öffentlichen Diskussion zusammenfinden mit dem erklärten Ziel, dem Erstarken rechtsextremistischer Parteien und Ideen zivilgesellschaftliches Engagement entgegenzusetzen.
Sozialarbeit
Wie in keiner anderen Stadt in Brandenburg wurde Anfang der 90er Jahre versucht, ein Anwachsen rechtsextremer Einstellungen unter Jugendlichen mit Sozialarbeit und “Runden Tischen”15 zu bekämpfen. Mit 36 Mitarbeitern in sechs Jugendeinrichtungen (drei städtische und drei freie Träger) nimmt Guben daher auch einen Spitzenplatz in Brandenburg ein. Der kritische Druck auf die Jugendarbeit war nach der Todesnacht entsprechend hoch16 , zumal als bekannt wurde, dass ein Teil der vermutlichen Täter zum Stammpublikum eines städtischen Jugendclubs gehört. Die Sozialarbeiter wiesen Schuldzuweisungen zurück: “Jugendsozialarbeit kann gar nicht versagen, sie setzt selbst erst ein, wenn die Eltern und die Gesellschaft versagt haben.”17
Schnell wurden allerdings die Mängel dieser Jugendarbeit deutlich: Der größte Teil der Sozialarbeiter ist in zeitlich auf ein Jahr befristeten ABM – Maßnahmen beschäftigt. Die personelle Kontinuität der Betreuungspersonen ist damit nicht gegeben. Viele der Sozialarbeiter sind für die Jugendarbeit nicht qualifiziert. Arbeitslose Kräfte wurden aus verwandten Berufen übernommen und angelernt. Es findet keine oder ungenügende Weiterbildung oder supervisorische Begleitung der Sozialarbeiter statt. Die weitreichendsten Folgen auf die Jugendarbeit aber hat die Tatsache, dass es in Guben keine klaren Konzepte gibt, wie mit rechtsextremen Jugendlichen gearbeitet werden soll. Zwar bezieht sich Stadtjugendpfleger Ley auf den Ansatz der akzeptierenden Sozialarbeit – alle Gubener Projekte machen “offene Jugendarbeit-, diese wird aber dem Prinzip der “Neutralität des Sozialarbeiters” gleichgesetzt.18 Beide Konzepte sind jedoch miteinander unvereinbar. Das Konzept der “akzeptierenden Sozialarbeit”, dass in den 90er Jahren von Prof. Krafeld in der westdeutschen Stadt Bremen entwickelt wurde, geht von einer Zielgruppe sozial auffälliger Jugendlicher aus, die es gilt, in die demokratische Gesellschaft zu integrieren. In aufsuchender Straßensozialarbeit oder in Jugendclubs geht der Sozialarbeiter zunächst mit einem niedrig-schwelligem Angebot auf die Jugendlichen zu, akzeptiert sie mit ihren jeweiligen individuellen Biographien und tritt gegebenenfalls auch als Lobbyist für sie auf. Durch seine Persönlichkeit als engagierter Träger humanistischer Werte soll der Sozialarbeiter nun in einem schrittweisen Prozess ein Umdenken der Jugendlichen bewirken.19 Die Problematik dieses Ansatzes ist in der Zwischenzeit viel diskutiert worden, hier sollen nur die wichtigsten Kritikpunkte benannt werden:
Der Ansatz beruht wesentlich auf der kritischen und gefestigten Persönlichkeit des Sozialarbeiters, der die rechtsextremen Jugendlichen mit seinen eigenen, grundverschiedenen ethischen Grundhaltungen, Wertvorstellungen und Handlungsmustern konfrontiert. Dies auch dauerhaft zu gewährleisten bedingt mindestens eine qualifizierte Ausbildung und berufsbegleitende Weiterbildung und Beratung, sowie klare Grenzziehungen innerhalb des Projektes.21
Ziel ist es rechtsextreme Jugendliche in die Gesellschaft zu re-integrieren. Wenn aber in ihrem Umfeld ein großer Teil der Erwachsenen, oder vielleicht sogar die Mehrheit, die rechtsextremen Auffassungen der Jugendlichen teilt, so wird dieses Ziel fragwürdig. In vielen Regionen Ostdeutschlands, so auch in Teilen Gubens22 , sind rechtsextreme Orientierungen bei Jugendlichen und einem Teil der Erwachsenen zum mainstream geworden. Rechtsextreme Cliquen sind schon lange keine Randgruppe mehr, die es zu integrieren gilt.
In der Antizipierung des Ansatzes werden häufig nicht die Wertorientierungen der Jugendlichen als eigentliche gesellschaftliches Problem verstanden, sondern ihre soziale Auffälligkeit, ihr Gewaltverhalten. In den Zeiten knapper Kassen macht eine einseitige sozialarbeiterische Ausrichtung auf “auffällige Jugendliche” diese eher attraktiver. Die ohnehin vorhandene Sogwirkung rechter Cliquen wird so mit staatlichen Mittel gefördert eher als bekämpft.
“Akzeptanz” darf hier nicht mit “Neutralität” gleichgesetzt werden. Die Jugendlichen werden mit den divergierenden Wertvorstellungen und Mustern des Sozialarbeiters konfrontiert. “Eine Änderung des Gewaltverhaltens oder der politischen Orientierung wird ‚eingetauscht‘ gegen die Hilfe für die Jugendlichen, mit ihrem Leben besser klarzukommen.”23 Politische Neutralität reduziert Sozialarbeit auf eine reine Verwaltung von Jugendlichen.
Runder Tisch Jugend
Seit 1994 findet sich, zuerst monatlich, jetzt nach Bedarf, der “Runde Tisch Jugend” zusammen. Eingerichtet in einer Zeit gewalttätig ausgetragener Konflikte zwischen “Linken” und “Rechten” war er ursprünglich als ein Forum gedacht, in dem diese Konflikte diskursiv gelöst werden sollen. Daher wurden auch bewusst rechtsextremistische Gruppen, wie die “Nationalen e.V.” bzw. ihre Jugendorganisation zu den Sitzungen eingeladen. Rechtsextremistische Organisationsbestrebungen erfuhren durch diese Akzeptanz als gleichberechtigter Gesprächspartner starke gesellschaftliche Aufwertung. Noch immer nehmen dort Führungspersönlichkeiten der Gubener rechtsextremen Szene, u.a. einer der Tatbeteiligten Jugendlichen teil und versuchen, ihre Interessen, bspw. einen “nationalen Jugendclub” durchzusetzen.
In der Zwischenzeit hat sich das Gremium allerdings faktisch zu einem Fachkreis für Sozialarbeit entwickelt, in dem nur noch vereinzelt Jugendliche zu Wort kommen und von dem keine Impulse mehr ausgehen. Politische Konfliktebenen oder konzeptionelle Auseinandersetzungen werden hier normalerweise vermieden oder vertagt.
Einschätzung
Guben zeigt im Verhältnis zu anderen mittelgroßen, ostdeutschen Städten kaum Auffälligkeiten. Entscheidende wirtschaftliche Umstrukturierungen, starke Abwanderungsbewegungen und hohe Arbeitslosenzahlen, aber auch eine hohe Anzahl von rechtsextremistischen und rassistischen Gewalttaten im Verhältnis zur Einwohnerzahl sind hier genauso normal wie der geringe Anteil nicht-deutscher Einwohner an der Gesamtbevölkerung. Besonders ist Guben allerdings in seiner Grenzlage und den damit verbundenen Kontakten nach Polen (EU-Außengrenze).
Die in der Hochphase rassistischer Angriffe 1991/92 gestellte Fehlanalyse, Rechtsextremismus und Rassismus wären ein Jugendproblem, und die daraus gezogene Schlussfolgerung, mit einer hohen Anzahl von Sozialarbeitern in der “offenen Jugendarbeit”, der Einrichtung von Jugendclubs und eines “Runden Tisch der Jugend” unter Beteiligung rechtsextremistischer Parteien den Rechtsextremismus zurückzudrängen, war nicht erfolgreich. Im Gegenteil, noch immer hat Guben eine, im Verhältnis zu anderen ostdeutschen Städten gleicher Größe, relativ große, organisierte und militante rechtsextreme Szene.24 Dazu hat die gesellschaftliche Aufwertung, die die “Nationalen e.V.” durch ihre Teilnahme erfahren haben, sicherlich nicht unwesentlich beigetragen.
Chronik der Ereignisse in der Todesnacht
13.2./14.2.99 (Freitag/Samstag),
0 Uhr: Bedrohung eines schwarzen Deutschen durch vier der späteren Tatbeteiligten
1 Uhr: Auseinandersetzung zwischen einer Gruppe Vietnamesen und vier jungen deutschen Rechtsextremen vor der Disko “Dance-Club”.25 In die Auseinandersetzung werden auch drei schwarze Kubaner verwickelt. Der rechtsextreme Ronny P. wird geringfügig verletzt. Ronny P. wird ambulant behandelt. Die Polizei nimmt seine Anzeige auf. Unter den Freunden des Ronny P. verbreitet sich per Handy das Gerücht “ein Neger” hätte ihn “mit einer Machete aufgeschlitzt”. Ca. 11 – 15 junge Männer begeben sich in mindestens drei Autos auf die Suche nach den vermeintlichen Tätern, um Rache zu nehmen. In der Altstadt von Guben werfen sie die Fensterscheiben eines “Asia-Shops” ein.
4:30 Uhr: Zurück in Obersprucke schütten sie einer zufälligen Passantin Bier ins Gesicht.
4:50 Uhr: Sie bemerken den Algerier Farid Guendoul in Begleitung von einem weiteren Algerier Khaled B. und Issaka K. aus Sierra Leone. Sie halten Issaka K. für den gesuchten Schwarzen, rufen ausländerfeindliche Parolen und versperren ihnen den Weg. Diese trennen sich in ihrer Flucht. Während Khaled B. stürzt und von mindestens einem Angreifer geschlagen und getreten wird bis er bewusstlos liegen bleibt, versuchen sich Farid Guendoul und Issaka K. in ein mehrstöckiges Wohnhaus zu retten. Farid Guendoul tritt die untere Türscheibe ein, um hindurch zu kriechen. Dabei verletzt er sich an der Knieschlagader. Er wird von Hausbewohnern gefunden, ist aber trotz ihrer Bemühungen binnen 15 Minuten verblutet.
Issaka K., der von der Schwere der Verletzung nichts ahnt, versucht Hilfe zu holen. Er hält ein vorbeifahrendes Taxi an, das ihn – verfolgt von den Angreifern – in ein nahegelegenes Bistro fährt. Die Angreifer belagern das Bistro, werden aber von der resoluten Wirtin zurückgehalten. Die rechtsextremen Angreifer, die davon ausgehen den “Neger mit der Machete” gefunden zu haben, sowie die Wirtin rufen die Polizei, die Issaka K. festnimmt und auf die Polizeiwache fährt. Die Rechtsextremen verfolgen auch das Polizeifahrzeug und versuchen in die Wache einzudringen. Dort wird Issaka K. ca. 7 bis 8 Stunden, davon 4 Stunden in Handschellen, als Beschuldigter einer Körperverletzung festgehalten.
5:30 Uhr: Die Rechtsextremen werfen die Scheiben eines vietnamesischen Restaurants ein.
Die Opfer
Farid Guendoul war 28 Jahre alt als er starb.
Es wuchs als eines von 10 Kindern in einer Armensiedlung in Algier auf.26 Unterstützt von seinen Brüdern machte er das technische Abitur und studierte in der Fachhochschule Flugzeugtechnik. Nach dem Diplom arbeitete er neun Monate als Handlanger am Flughafen, dann entschloss er sich nach Europa zu fliehen, um so der Arbeitslosigkeit und dem Druck des Bürgerkrieges zu entgehen. Im Sommer 1997 beantragte er – um seine Familie zu schützen unter dem Namen Omar Ben Noui – Asyl in Deutschland. Nach einem kurzen Aufenthalt im Erstaufnahmelager Eisenhüttenstadt wurde er in das Wohnheim Sempten bei Guben eingewiesen. Hier lernte er deutsch und versuchte sich mit einem selbstfinanzierten Elektronikkurs weiterzubilden. Farid Guendoul hinterließ eine schwangere Freundin. Seine Tochter kam am 26.August, sechs Monate nach seinem Tod zur Welt.
Khaled B.27 , 27 Jahre alt, begleitete Farid Guendoul am Todesabend. Auch Khaled B. stammte aus Algier und ist etwa gleichzeitig mit Farid Guendoul in Deutschland angekommen. Zusammen mit dem anderen Überlebenden, Issaka K., wurde er nach der Tat nach Potsdam verlegt. Seit der Nacht leidet er unter posttraumatischen Störungen: Wutanfälle wechseln sich ab mit Misstrauen und Depression. In seiner Gerichtsaussage belastete er neben den eigentlichen Tätern auch die Polizei schwer: Ein vorbeifahrender Polizeiwagen hatte das Winken der drei Asylbewerber übersehen. Er selbst wurde in der Nacht niedergeschlagen und erlitt Platzwunden am Kopf, sowie eine Gehirnerschütterung. Da er bei seinem Besuch im Krankenhaus keinen Kosten-übernahmeschein des Sozialamtes vorweisen konnte, wurde ihm eine Behandlung zunächst verweigert. Auf der Polizeiwache, auf der Suche nach seinen Freunden, sah er Issaka K. in Handschellen und erfuhr vom Tod Farid Guendouls.
Issaka K. (17 Jahre) war im Februar 99 erst vier Monate in Deutschland. Er stammt aus Sierra Leone und spricht wenig Englisch, etwas Französisch und im Februar 99 praktisch kein Deutsch. Zusammen mit einem etwas älteren Mann aus Togo, der ihn in der Rolle als älterer Bruder unterstützte, wurde auch er nach der Tat nach Potsdam umverteilt. Dort wurde er Ende November 99 erneut angegriffen. Zwei rechtsextreme Potsdamer hatten ihn in der Straßenbahn bedroht. Diesmal allerdings gingen Fahrgäste dazwischen und verhinderten Schlimmeres.28
Issaka K. war der letzte, der Farid Guendoul lebend gesehen hatte. Bei seiner gerichtlichen Vernehmung am 28.9.99 wurde ihm deshalb von Seiten der Verteidigung “unterlassene Hilfeleistung” unterstellt. Er rechtfertigte sich, dass die Schwere der Verletzung zuerst nicht ersichtlich war und er versucht hatte, Hilfe zu holen. Er konnte sich aber nicht verständlich machen, sondern wurde selbst von der Polizei verhaftet und verbrachte 8 Stunden, z.T. mit auf den Rücken gefesselten Händen, auf der Gubener Polizeiwache. Seine Verfolger hatten ihn fälschlicherweise angezeigt, einen anderen Rechtsextremen mit einer Machete verletzt zu haben. Nachdem die Polizei seine Verhaftung zunächst abstritt und als “frei erfunden” bezeichnete29 , begründete sie ihre Maßnahme später damit, es hätte Fluchtgefahr bestanden und eine Arrestzelle zur Unterbringung Beschuldigter wäre noch im Bau.30 Der Polizeisprecher des Präsidiums ließ darüber hinaus gegenüber der Presse verlauten, sie hätten keinen Dolmetscher gehabt, “der afrikanisch versteht”.31
Die Täter
Schon wenige Stunden nach der Hetzjagd konnten die ersten fünf Tatverdächtigen festgenommen werden. In den nächsten Tagen erhöhte sich ihre Zahl auf 11 Jugendliche im Alter von 17 bis 20 Jahren. Zwei wurden aufgrund anderer Ermittlungen in Untersuchungshaft genommen, die anderen wurden nach polizeilicher Vernehmung wieder frei gelassen.
In einer ersten Stellungnahme charakterisierten Polizeivertreter die Festgenommenen als “ganz normale kriminelle Jugendliche”32 , die “gewaltbereit sind, offenbar unabhängig davon, gegen wen sich die Gewalt im konkreten Fall richtet”.33 Sie gehören zu einer Clique von 40 bis 50 jungen Leuten, die sich regelmäßig am Wochenende an einer Tankstelle im Plattenbauviertel “Obersprucke” treffen.34 Der Polizei sind einige der Jugendlichen u.a. wegen Körperverletzungen und “Verwenden verfassungsfeindlicher Symbole” bekannt. Fünf von ihnen sind nun außerdem wegen weiterer Delikte, u.a. brutaler folterähnlicher Körperverletzungen an Jüngeren35 , angeklagt.
Polizei wie Jugendsozialarbeiter bemühten sich zu betonen, es gäbe in Guben zwar eine “relativ starke rechtsradikale Klientel”, diese sei aber “nicht organisiert” und bisher v.a. durch Heil-Hitler-Rufe und Hakenkreuzschmierereien in Erscheinung getreten.36 In der Tankstellen-Clique seien zwar “auch einige junge Männer zu finden, die einmal einer rechten Gruppierung angehörten, momentan kann man aber nicht von funktionierenden rechtsradikalen Parteien oder Gruppen in Guben sprechen”.37 Nur zwei der Jugendlichen gehören zum harten Kern der rechtsextremen Szene der Stadt, die anderen seien “ ‘Fun-Faschos‘, Mitläufer, die in der Clique Anerkennung und Selbstbewusstsein suchen”.38
Über den persönlichen Hintergrund der Festgenommenen ist nur wenig bekannt. Jugendpsychiatrische Gutachten über ihre Persönlichkeitsentwicklung und Schuldfähigkeit wurden unter Ausschluss der Öffentlichkeit verlesen, bis auf eines, das einem 17-Jährigen “geringe Belastungsfähigkeit” und Imponiergehabe” in Konfliktsituationen attestierte.39 Das zuerst gezeichnete stereotype Täterbild vom “arbeitslosen Jugendlichen aus zerrütteter Familie” musste schon bald revidiert werden: Alle Tatverdächtigen sind in Arbeit oder Ausbildung. Einige mögen vielleicht aus “schwierigen Elternhäusern” stammen40 , die meisten Eltern äußerten sich jedoch nicht gleichgültig sondern bestürzt über die Tatbeteiligung ihrer Söhne. Fast noch mehr empörte sie allerdings die Tatsache, dass ihre Kinder auch nach über einem Jahr noch zwei mal in der Woche zur Gerichtsverhandlung in das 25 km entfernte Cottbus müssen. “Methoden, wie zu DDR-Zeiten”, so beschreibt es einer der Väter.41 Auch noch im 40. Prozesstag unterstützen sie ihre Söhne nach Kräften.
Auch die Forschung geht davon aus, dass die überwiegende Mehrzahl rassistischer Gewalttaten von jungen Männern unter 20 Jahren begangen wird. Die Täter gehen normalerweise zur Schule oder absolvieren eine Lehre bzw. Ausbildung. Es gibt “keine stichhaltigen Hinweise darauf, dass die Täter v.a. aus ‚zerrütteten Familien‘ oder ‚asozialen Randgruppen‘ stammen”.42 Die meisten fremdenfeindlichen Gewalttaten werden von “Angehörigen informeller Cliquen” mit “deutlicher Nähe zur Skinheadszene” in kleineren Gruppen begangen. Der Anteil der Angehörigen organisierter rechtsextremer Gruppierungen beschränkt sich schätzungsweise auf ein Viertel der Täter.43
Sozialwissenschaftliche Forschungen gehen weiterhin davon aus, dass das aktuell bedeutsame Umfeld, zumal wenn es “verständnisvolle Reaktionen oder die nicht recht deutlich gemachte Missbilligung der Gewalt gegen Ausländer”44 zeigt, einen starken Einfluss auf die Jugendlichen haben.
Dies ist auch bei den angeklagten Jugendlichen der Fall. Wenn auch davon ausgegangen werden kann, dass nur drei der jungen Männer organisatorisch rechtsextrem eingebunden sind45 , äußerten sich doch auch einige der anderen Angeklagten ausländerfeindlich oder positionieren sich Selbst oder andere Angeklagte als “rechts”.46 “Rechts-Sein” ist unter Jugendlichen schon lange ein Synonym für “ausländerfeindlich”. An der Frage “Bist du für oder gegen Ausländer?” entscheidet sich, ob sich Jugendliche als “rechts” oder als “links” einordnen.47 Begründet wird die Ablehnung von Ausländern meist mit sozio-ökonomischen Vorbehalten. So wird ein 16-Jähriger aus einer Schule im Gubener Stadtteil “Obersprucke” in der Presse folgendermaßen zitiert: “Auch wenn er selbst der Meinung sei, Ausländer würden den Deutschen die Arbeitsplätze wegnehmen, gehe das, was (mit Farid G.) geschehen sei, zu weit.”48 Auch einer der Angeklagten äußerte sich ähnlich: “Eigentlich habe ich nichts gegen Ausländer – nur wenn sie von den Steuergeldern der Deutschen leben, unsere Frauen anmachen, womöglich auch noch straffällig werden, etwa klauen oder so, das ist dann zuviel.”49
Die Jugendlichen stehen mit ihrer Meinung nicht allein. Nach Umfragen des FORSA-Instituts stimmen 57% aller Brandenburger der Aussage zu “Ausländer missbrauchen die Leistungen unseres Sozialsystems.”, 48% der Aussage “Ausländer verschärfen die Arbeitslosigkeit.”
Die Tankstelle, auf der die jugendlichen Rechten sich am Wochenende treffen, die Disko “Dance-Land” in der die Auseinandersetzungen seinen Anfang nahmen und auch das Haus, in dem Farid G. den Tod fand, liegen im Plattenbauviertel “Ober-sprucke”, in dem auch alle Angeklagten wohnen. Dieses sozialschwache Viertel mit hohem Leerstand gilt als das Zentrum der rechtsextremen Jugendszene Gubens. Nach Einschätzungen des Stadtjugendpflegers haben über 60 % der Jugendlichen aus Obersprucke eine rechte Meinung.50 Rechtsextreme Einstellungs- und Handlungsmuster sind in vielen ostdeutschen Städten kein Randphänomen mehr, sondern sind in den letzten Jahren zum “Lifestylesyndrom”51 geworden. Entsprechende Attribute, wie rechtsextreme Musik, Skinhead-Outfit, rassistische Schimpfwörter (Fidschi, Neger), werden in ihrem ideologischen Gehalt von vielen Jugendlichen, aber auch Erwachsenen, nicht mehr wahrgenommen, sondern gehen in den allgemeinen Sprachgebrauch über. Die rechtsextrem orientierte Jugendkultur ist in der Lage, “erhebliche sozio-kulturelle Kapazitäten zu mobilisieren und sozialräumliche Dominanzen herzustellen”.52 Jugendliche, die in diesem rechtsextrem dominierten Raum aufwachsen, werden schon sehr früh dazu gezwungen, sich zu positionieren, ob sie für oder gegen Ausländer, ob sie “rechts” oder “links” sind. In Obersprucke scheinen sich viele Jugendliche, vielleicht auch einige der Angeklagten, für die Alternative “Schutz durch Teilhabe an der Macht”53 zu entscheiden. Eine 16-Jährige, polnischer Herkunft, formulierte dies so: “Wer nicht rechts ist, hat hier keine Freunde. Rechts ist hier Mehrheitsmeinung. Ich habe auch keine Lust, dann am Ende allein dazustehen.”54
Hergestellt, aufrechterhalten und ausgeweitet wird diese rechte Hegemonie durch die Androhung und Ausübung von Gewalt. Sie ist “integrierendes Moment und identitätsbildend für einen Teil der Jugendlichen in der rechtsextremen Szene”.55 Sie ist darin nur zum Teil politisch motivierte Gewalt im Sinne von Polizei und Verfassungsschutz, vor allem ist sie “ideologisch und sozialpsychologisch begründeter Handlungskomplex, der sich an Feindbildern orientiert und im Sinne des Rechtsextremismus intendiert und funktional”56 , wenn auch nicht zentral, gesteuert ist. Die Stimmung der Bewohner des rechtsdominierten Viertels “Obersprucke” ist geprägt von Angst57 und Anpassung.
Es entsteht eine Art “Kontrastgesellschaft, in der es für alle, nicht nur für die Rechten selbst, als normal angesehen wird, rechtsorientierte oder rechtsextreme Einstellungen zu haben”.58 Ein Graffiti in Obersprucke bringt die Stimmung auf den Punkt: “Wir sind keine Rechten, wir sind Deutsche.”59
Juristische Verarbeitung
Am 3.6.99 wurde der Prozess gegen 11 Angeklagte wegen fahrlässiger Tötung, Nötigung, Körperverletzung und Beleidigung vor dem Landgericht Cottbus eröffnet. Eine Anklage wegen schwerem Landfriedensbruch lehnte das Gericht ab. An dem Prozess nahmen als Nebenkläger der Bruder des Toten, Malik Guendoul, teil, der zur Prozesser-öffnung aus Algerien anreiste, seine Mutter, Issaka K. und Khalid B.. Alle Nebenkläger lassen sich von RechtsanwältInnen vertreten.
Die Vertretung der angeklagten jungen Gubener übernahmen zwei bekannte Anwälte der rechtsextremen Szene60 , vor allem aber junge karrierebe-wusste Anwälte aus Cottbus und Guben. Aufgrund der Länge des Verfahrens wurden, neben den ursprünglichen Verteidigern, weitere 9 Ersatz-Verteidiger benannt.
Die Verteidiger gehen davon aus, es hätte zuerst eine Hetzjagd einiger Ausländer gegen Deutsche gegeben61 , die Angeklagten hätten dann die Täter gesucht und Farid Guendoul wäre in unbegründeter, von Fluchttraumata verursachten Panik durch die eingeschlagene Glastür gekrochen. Zum Beweis wollen sie nun die Asylakten der Opfer heranziehen. Nur einer der Angeklagten gesteht vor Gericht einen Angriff auf Khaled B.. Er wird dafür als Verräter verfolgt und von der rechtsextremen Szene massiv bedroht.62
Bis Anfang April 2000 wurden von Seiten der Verteidigung insgesamt 43 Befangenheitsanträge gegen die große Strafkammer eingebracht.63 Darüber hinaus stellten sie mehrere Ausschlussanträge gegen die Nebenklage, die u.a. mit Zweifeln an der Identität des von seiner Familie zweifelsfrei identifizierten Toten begründet wurden. Fragen zum äußeren Auftreten der Tätergruppe, zur rechtsextremen Gesinnung der Angeklagten und damit zum Tatmotiv werden von der Verteidigung systematisch abgeblockt. Eine Flut von Anträgen, über die meist ein Gerichtsbeschluss mitbeantragt wird, verzögert das Verfahren soweit, dass zu befürchten war, es ziehe sich vielleicht sogar bis ins Jahr 2001, zwei Jahre nach der Tat, hin.
Einer der Rechtsanwälte sagte dazu: “Je länger man das Verfahren rauszögert, desto schlechter können sich die Zeugen erinnern.”64 Prozessbeobachter gehen in der Zwischenzeit davon aus, dass die Rechtsanwälte Revisionsgründe sammeln oder das Verfahren sprengen wollen. Diese Taktik stieß in der Öffentlichkeit auf heftige Kritik.65 Anfang März kritisierte sogar Bundestagspräsident Thierse den „skandalös“ lange dauernden Prozess. Es entstehe der Eindruck, dass „der Rechtsstaat mit diesen rechtsextremistischen Taten nicht fertig werde“.66
Die Aburteilung von Jugendlichen sollte zeitnah zur Tat erfolgen. Der erzieherische Charakter – die Strafe soll quasi auf dem Fuße folgen. – steht hier im Vordergrund. Im sogenannten “Hetzjagd-Prozess” ist davon nicht zu spüren. Nach ca. 40 Verhandlungstagen ist die Atmosphäre “wie jeden morgen im Großraumbüro”67 : “Lässig, ein wenig gelangweilt, wie Theaterbesucher eines nicht sonderlich aufregenden Stückes, sitzen sie (die Angeklagten) hinter ihren Verteidigern. Sehnsüchtig erwarten sie die Pausen.”68 Die eigentliche Gewalttat gerät in Vergessenheit.
Angesichts der folgenlosen Verdrängung der Tat in Guben selbst, drängt sich allerdings die Frage auf, ob sich ohne den Skandal der Prozessverschleppung mehr als ein Jahr nach der Tat noch jemand mit dem Tod Farid Guendouls beschäftigen würde. So halten die kurzen, wöchentlichen Prozessberichte der Medien auch die Erinnerung an seinen Tod wach.
Am 15. November 2000 wurde der Prozess mit der Urteilsverkündung beendet. 3 Täter bekommen Verwarnungen, 7 Täter wurden „auf Bewährung“, 3 Täter wurden zu Haftstrafen verurteilt, davon jedoch nur einer wegen der Tötung Farids.
Reaktionen Erste Reaktionen auf kommunaler und Landesebene
Die Nachricht vom Tod Farid Guendoul überraschte die Landesregierung auf einer Konferenz, auf der diese die ersten Erfolge ihres Programms gegen Rechtsextremismus “Tolerantes Brandenburg” feiern wollten. In einer ersten Reaktion bezeichnete der Innenminister die Tat dann auch als “herben Rückschlag für das Tolerante Brandenburg”69 und als “schwerwiegenden Einzelfall, der allen Bemühungen um positive Entwicklung schade”70 , während allerdings Ministerpräsident Stolpe sofort vor einer Vorverurteilung der Täter warnte.71
Die Reaktionen verschiedener Parteien wurden vom Landtagswahlkampf überschattet. So machte die PDS im wesentlichen die CDU-Unterschriftskampagne72 für den Tod Farid Guendouls verantwortlich, da sie zu einer Enttabuisierung von Gewalt gegen Ausländer beitrage.73 Die Grünen bezeichneten die SPD der “Augenwischerei”, die CDU wiederum leiste der latenten Fremdenfeindlichkeit Vorschub.74 Die CDU75 selbst gab die Schuld der Annahme, es gäbe zu wenig Polizeikräfte im Land und das Vertrauen der Brandenburger in den Rechtsstaat sei, aufgrund jahrelanger SPD-Regierung ungenügend entwickelt. Zynisch wurde die Hetzjagd auf Flüchtlinge mit Angriffen auf CDU-Stände zur Unterschriftenkampagne verglichen.76
Vor Ort riefen der Bürgermeister Gubens und der Landrat für den nächsten Tag zu einer Mahnwache auf und sprachen sich in einer Presseerklärung gegen “Ausländerfeindlichkeit und politischen Extremismus” aus.77 Gleichzeitig rief auch die “Antifa Guben”, gemeinsam mit anderen antifaschistischen Gruppen zu einer Demonstration zum Tatort auf. An beiden Veranstaltungen nahmen zusammen ca. 500 Menschen teil. Auf der Mahnwache zeigten sich hochrangige Regierungsvertreter der Landesregierung betroffen und entsetzt.78
Auch in den nächsten Tagen und Wochen gab es verschiedene Trauer- und Gedenkfeiern, sowie Benefizkonzerte für die Familie und das ungeborene Kind Farid Guendouls. Auf Initiative des Bürgermeisters begann eine Unterschriftenaktion für ein “offenes, tolerantes Guben”.79 Auf einer zentralen Trauerfeier in der Landeshauptstadt nahmen ca. 1000 Menschen teil, unter ihnen fast das gesamte Brandenburger Kabinett, die Brandenburger Ausländerbeauftragte und die Bundesjustizministerin Däubler-Gmelin.
Medienreaktionen
In den ersten Tagen und Wochen nach dem Tod berichteten regionale und überregionale Tageszeitungen fast täglich aus Guben, mehrere Radio- und Fernsehredaktionen interviewten Bürger und Politiker zu den Ereignissen. Stadtjugendpfleger Ley hat in den ersten 14 Tagen fast 200 Interviews gegeben.80 Sogar internationale Medien brachten Berichte über die kleine Stadt Guben.81 Im Gegensatz zu früheren Angriffen wurde das Ereignis nicht heruntergespielt, sondern ausführlich gewürdigt und auch in seinen Folgen längerfristig begleitet.
In Kommentaren machten die Zeitungen das gesellschaftliche Klima des Wegsehens82 , den Materialismus der Menschen und den allgemeinen Verlust mitmenschlicher Werte für die Tat verantwortlich83 , sehen die überproportionale Anzahl rechtsextremer Gewalttaten in den östlichen Bundesländern als Spätfolgen der DDR Geschichte84 und den Ruf der Stadt und des Landes gefährdet.85 Rechtsextremismus- und Jugendforscher wurden nach ihren Forschungsarbeiten gefragt, Nachbarn, Jugendliche an den Schulen und Politiker interviewt. Unter den Interviewten sind auch einige wenige, die der verfehlten Ausländerpolitik die Schuld an den wiederkehrenden rassistischen Angriffen geben.86
Stimmung in der Bevölkerung
Nach einer ersten Phase der Betroffenheit, wollen viele Gubener offenbar wieder zur Tagesordnung übergehen. So berichtete der engagierte Bürgermeister Gubens, dass er schon zwei Wochen nach der Tat Schmähbriefe ohne Absender erhalte und Leute ihn fragen würden, ob denn eine Mahnwache nicht genügt hätte und der Bürgermeister sich nicht wieder um seine Arbeit kümmern wolle.87 Die Ereignisse seien von den Medien aufgebauscht worden. “Über einen toten Deutschen wird auch nicht gesprochen!”88 Die Negativschlagzeilen schaden dem Ruf der Stadt und schrecken potentielle Investoren ab. Schnell machen viele eher dem Toten als den Tätern Vorwürfe. Der Satz “was hat der denn überhaupt so spät auf der Straße zu suchen?”, scheint schon kurz nach der Tat die Runde zu machen89 und wird auch von Stadtverordneten aufgegriffen.90 Zum Skandal wird diese Bemerkung erst als sie vom Bürgermeister der Nachbarstadt Spremberg wiederholt wird.91 Später entschuldigt sich dieser Bürgermeister, nur um hinzuzufügen, dass die “erste Provokation” aber “von einem afrikanischen Asylbewerber ausging”92 und “Asylbewerber bei ihrem Aufenthalt in Deutschland auch der jeweiligen Situation vor Ort und den Gegebenheiten in Deutschland Rechnung tragen”93 müssen und bestimmte Orte zu meiden haben. Die Brandenburgische Heimordnung sehe eine Nachtruhe von 22 Uhr bis 6 Uhr vor und die gelte es durchzusetzen.94
An dem Umgang der Stadt und ihrer Bewohner mit einem von der Antifa Guben errichteten Gedenkstein für Farid Guendoul wird diese Stimmung noch einmal deutlich. Die Gruppe hatte zunächst vor, eine Gedenkplatte am Haus anzubringen, wurde daran aber von der Polizei gehindert, die ihnen mit einer Anzeige wegen Sachbeschädigung drohte,95 da eine Genehmigung der Wohnungsbaugesellschaft nicht vorlag. Monate später, am 16.7.99, wird die Gedenkplatte auf einem Granitstein vor dem Haus angebracht. Vorausgegangen waren langwierige Diskussionen mit der Stadt über die Platteninschrift und den Standort des Steines.96 Der Gedenkstein blieb ein Stein des Anstoßes, denn in der Folge häuften sich seine Schändungen: Bereits einige Tage später entdeckten Polizeistreifen Hakenkreuze auf dem Stein und rechtsextremistische Symbole in seiner Umgebung. Unter den Augen der Bewohner umliegender Häuser traf sich genau an diesem Ort in den Sommermonaten regelmäßig eine Gruppe rechter Jugendlicher, die Bierflaschen auf dem Stein zerschlugen, darauf urinierten und ihn mit rechtsextremen Aufklebern beklebten.97 In der Sylvesternacht wurde die Platte dann so stark beschädigt, dass die Antifa beschloss anlässlich des sich jährenden Todestages eine neue Platte anzubringen, auf der nun auch der richtige Name Farid Guendouls zu lesen war. Zuvor jedoch wurden sechs Jugendliche zwischen 16 und 18 Jahren bei dem Versuch festgenommen auf dem Gedenkstein eine Plastikflasche mit Koniferen abzustellen. Auf der Flasche befand sich ein Aufkleber der NPD “Ausländerrückführung statt Integration”.98 Auch nach dem Anbringen einer neuen Platte setzten sich die Schändungen fort, an der sich auch zwei der angeklagten Jugendlichen beteiligten99 , bis die Platte dann am 4.3.00 gestohlen wurde. In einer Presseerklärung forderte die Antifa Guben nun die Stadt auf, den Gedenkstein zu erneuern und sich für seine Erhaltung verantwortlich zu erklären.100 Nach z.T. heftigen Debatten101 einigte sich die Stadtverordnetenversammlung auf einen sehr abgeschwächten Text, in dem die Ursache für Farid Guendouls Tod nicht mehr erwähnt wird.102 Am 8.5.00 wurde die Platte mit der neuen Inschrift eingeweiht, am 24.5.00 und Anfang Dezember 00 wurde sie erneut geschändet. Mit jeder dieser Schändungen, die unter den Augen der Anwohner geschehen, aber normalerweise erst von der Polizei selbst entdeckt werden, mehren sich Stimmen in der Bevölkerung, die eine Beseitigung des Steines forderten. Er würde provozieren. Sei er nicht da, so könne er auch nicht zum Anlass für rassistische Anschläge werden.103
Reaktion der rechtsextremen Szene
Schon zwei Tage nach der Tat werden am Tatort Hakenkreuze und rechte Parolen gesprüht. Die Täter werden schnell gefasst, die Polizei bezeichnet sie als “Trittbrettfahrer”. Am nächsten Wochenende sammeln sich ca. 70 Rechtsextreme, um sich gegen angebliche Racheaktionen ausländischer Banden zu schützen.104 Am 26.2.99 wird der 21-jährige Kenianer Dawis M. am Bahnhof von einem Auto verfolgt und kann sich nur durch einen Sprung hinter Bäume retten. Am gleichen Abend werden fünf Türken in einer Spielhalle ausländerfeindlich angepöbelt und müssen zum Asylbewerberheim von der Polizei eskortiert werden. Gegen Mitternacht des nächsten Tages fordern vier Jugendliche vor dem Heim in lauten Rufen: “Kommt raus!”. Am 2.3.99 zogen mehrere 15- bis 16-jährige am Tatort vorbei und riefen “Deutschland den Deutschen! Ausländer raus!”105 Sylvester 1999/2000 marschierten rund 30 junge Männer, unter ihnen drei der Angeklagten mit Reichskriegsflagge und unter “Sieg-Heil”- Rufen durch Guben.106 Schändungen des Gedenksteines halten die Öffentlichkeit in Atem.
Vor Ort wird nach dem Tod Farid Guendouls ein Erstarken der rechtsextremen Szene beobachtet.107 Der NPD Landtagskandidat hält die Stimmung in der Bevölkerung nach dem “Vorfall” für einen guten Ausgangspunkt im Wahlkampf.108 Gerüchte besagen, dass sich die Szene nun mit scharfen Waffen eindeckt.109 Auch Wendt wird während seines Hafturlaubs im Februar in Guben gesehen110 , eine Begrüßungsfeier nach Haftentlassung Schwerdts am 23.3.99 ist in Planung111 .
Die rechtsextreme Presse kommentiert und begleitet die Ereignisse um Farid Guendouls Tod zynisch und unter Verdrehung der ermittelten Fakten. Zusammenfassend geht die rechtsextremistische Presse davon aus, dass Farid Guendoul “durch eigenes Handeln zu Tode gekommen ist”. “Nationale Jugendliche” hätten versucht einen “mutmaßlichen Straftäter festzunehmen”, dieser wäre dann in “irrationaler Panik” durch eine Scheibe gesprungen. Dem ganzen wäre eine “deutschenfeindliche Gewalttat” vorausgegangen. Farid Guendoul wäre ein Unfallopfer, das als Ausländer offenbar mehr zähle als deutsche Opfer. Er hätte unter einem “Decknamen” “mutmaßlich unberechtigt” Asyl beantragt, die Polizei ermittle wegen seiner “eventuellen kriminellen Vergangenheit”. In den folgenden Tagen hätten “wahllos Verhaftungen von jungen deutschen Mitbürgern” stattgefunden, die nun in einem “politischen Tribunal” abgeurteilt werden, in dem sie “keine Gerechtigkeit erwarten können”. Aber “es wird nicht mehr lange dauern”, “die Ausländer sollten sich darauf gefasst machen, bald in ihre Heimatländer zurückzukehren”112 .
Interventionsansätze
Brandenburg hat über mehrere Jahre einen Spitzenplatz in der bundesdeutschen Statistik rechtsextremer Gewalttaten eingenommen. Derzeit liegt es mit 2,39 rechtsextremistischen Gewalttaten je 100.000 Einwohner auf dem dritten Platz, aber immer noch weit vor Berlin (0,88). Mit brutalen rassistischen Gewalttaten, wie der Mord an dem Angolaner Amadeu Antonio 1990, der versuchte Mord an dem Italiener Orazio Giamblanco 1996 oder an dem schwarzen Briten Noell Martin 1996, geriet Brandenburg auch international immer wieder in die Schlagzeilen. Im Februar 1999 stufte das US-Nachrichtenmagazin “TIME” Brandenburg sogar als europäischen Krisenherd ein und schlug den Einsatz von NATO-Friedenstruppen vor.
“Tolerantes Brandenburg”
Brandenburg ist das erste Bundesland, das mit einem Regierungsprogramm politische Verantwortung für die Lösung des Problems Rechtsextremismus übernommen hat. Die SPD – Regierung zog die Konsequenzen aus Umfragen und Statistiken, die deutlich machen, dass rassistische Einstellungsmuster keineswegs – wie zuvor angenommen – ein Jugendproblem sind, dem mit jugendpolitischen Maßnahmen und Instrumenten der Strafverfolgung begegnet werden kann. Ziel des im Sommer 1998 verabschiedeten Handlungskonzeptes “Tolerantes Brandenburg”113 ist der Aufbau, die Begleitung und die Koordination zivilgesellschaftlicher Strukturen und Aktivitäten. Konkret werden verschiedene, auch nicht-staatliche Projekte und Aktivitäten mit Schwerpunkt im Jugendbildungsbereich und im Bereich “multikulturelle Begegnung” gefördert. Darüber hinaus wurde eine Spezialeinheit der Polizei gebildet, die im Vorfeld rechtsextreme Treffpunkte kontrollieren und so potentielle Täter abschrecken soll, sowie ein 12-köpfiges Mobiles Beratungsteam (MBT), das Kommunen und Institutionen im Umgang mit Rechtsextremismus zur Seite stehen soll.
Die Aufbruchstimmung des Handlungskonzeptes löste eine Dynamik aus, in der die bisherige Tabuisierung der Probleme in den Kommunen durchbrochen wurde und sich Kommunalpolitiker öffentlich gegen Rechtsextremismus und Rassismus positionierten. Mit dem Tod Farid Guendouls, der gezeigt hat, dass schnelle Erfolge nicht zu erwarten sind, und der Bildung einer CDU-SPD Koalition nach hohen Verlusten der SPD in der Landtagswahl im Sommer 1999, ist die positive Dynamik des Handlungskonzeptes allerdings gebrochen. Besonders aus konservativen Kreisen mehren sich die Stimmen, die ein härteres staatliches Durchgreifen gegen jede Form des Extremismus und der Gewalt fordern und Maßnahmen gegen Rassismus darin keine Sonderrolle mehr zubilligen wollen.114
Problematisch ist aus Sicht antirassistischer Nichtregierungsorganisationen allerdings auch, dass das Konzept “Tolerantes Brandenburg” Rassismus und Rechtsextremismus ausschließlich in der Zivilgesellschaft, dort v.a. im kulturellen und Bildungsbereich, verortet. Rassistische oder “fremdenfeindliche” Handlungsmuster liegen nach diesem Konzept wesentlich im Mangel an Begegnungsmöglichkeiten mit Ausländern begründet. Ein Zusammenhang zwischen staatlicher Ausgrenzung mittels restriktiver Sondergesetze für Ausländer, insbesondere Flüchtlinge, gesellschaftlicher Ausgrenzung und rassistischer Gewalt wird von staatlichen und häufig auch von nicht-staatlichen Stellen geleugnet. Da eine Integration von Flüchtlingen staatlich nicht gewollt ist und legale Migration staatlicherseits versucht wird zu verhindern, kann ein Konzept, das diese Politik nicht in frage stellt keine wirklich tiefgreifenden gesellschaftlichen Veränderungen bewirken.
“Weltoffenes Guben”
Die oben genannten Beschränkungen gelten auch für das Programm “Weltoffenes Guben”, mit dem die Stadt Guben auf Anregung des MBT Süd115 auf den Tod Farid Guendouls reagierte. In einer vertragsähnlichen “Kooperationsvereinbarung” wurde am 1.8.99 die Zusammenarbeit zwischen dem MBT und der Stadt Guben bei der Entwicklung eines “Sofortprogramms”, einer “Situationsanalyse” und eines “Handlungskonzeptes” vereinbart. Erklärtes Ziel dieser Vereinbarung ist die “Entwicklung einer dauerhaften Strategie zur Verbesserung der städtischen Angebote, damit extremistische, insbesondere rechtsextreme und rechtsradikale Kräfte ihren Einfluss in der Stadt Guben dauerhaft verlieren”.116 Die ursprünglich geplante explizite Ausrichtung gegen Rechtsextremismus (nicht gegen Extremismus) war am Widerstand konservativer Kräfte innerhalb der SVV gescheitert.117
Bisher blieb das Programm weitgehend erfolglos. Das “Sofortprogramm”, ein geplanter öffentlicher Ideenwettbewerb und eine Befragung staatlicher Einrichtungen und Vereine zu ihren Möglichkeiten “Begegnungen mit Fremden” zu schaffen, das im November 99 verabschiedet werden sollte, wird fast 2 Jahre nach dem Tod Farid Guendouls, noch immer in Ausschüssenberaten. In die “Situationsanalyse” wurden weder Flüchtlinge noch potentiell gefährdete Jugendgruppen, wie der deutsch-polnische Jugendverein “Guben-Gubin” oder die “Antifa Guben”, aktiv miteinbezogen. Das Handlungskonzept ist für August 2000 angekündigt.118 Angesichts der Stimmung in Guben119 und der lokalen Stärke konservativer und rechtsextremer Kräfte120 kam auch dieses bisher nicht zustande.
Antirassistische Initiativen und NGOs
Lokale antirassistische Gruppen und Organisationen, wie die “Anlaufstelle für Opfer rechtsextremer Gewalt” in Cottbus, die Antifa Guben und die “Forschungsgesellschaft Flucht und Migration” aus Berlin, beschränken ihre Intervention in Guben derzeit auf zwei Bereiche:
Sie bemühen sich, entgegen der kollektiven Tendenz nach dem Tod Farid Guendouls zur Tagesordnung überzugehen, die Themen “Rechtsextremismus und Rassismus” lokal wach zuhalten, um den Handlungsdruck der Stadt aufrecht zu halten. Neben der Errichtung eines Gedenksteins121 trugen dazu auch eine Veranstaltungsreihe122 und eine Gedenkfeier zum Jahrestag sowie verschiedene Presseerklärungen bei. Ein Buch zu den Ereignissen ist zum 2. Jahrestag geplant. Unterstützt werden sie darin unbeabsichtigt von rechtsextremen Jugendlichen, die den Gedenkstein immer wieder schänden, aber auch von den Rechtsanwälten, die das Verfahren nun schon fast ein Jahr verschleppen. Beide Tatsachen tragen erheblich zu einer kontinuierlichen Berichterstattung über Guben bei.
Darüber hinaus unterstützen sie lokal gezielt Jugendliche nicht rechter Subkulturen123 und Flüchtlinge in ihrem Selbstorganisierungsprozess und versuchen, deren Sichtweise als potentiell Gefährdete in die öffentliche Diskussionen einzubringen. Ziel dabei sind sowohl die Stärkung der Handlungskompetenz bedrohter Gruppen und Ansätze demokratischer Jugendkultur, die Jugendlichen angesichts eines rechtsextremen Mainstreams Orien-tierungsalternativen bietet, als auch der gegenseitige Schutz als potentielle Opfer rechtsextremer Gewalt und die Sensibilisierung der Öffentlichkeit für die Situation der Betroffenen.
Conclusions
Aus den Erfahrungen in Guben und anderen Fällen rassistischer und rechtsextremer Gewalt lassen sich folgende typische kommunale und staatliche Reaktionsmuster erkennen124 , die in der Praxis normalerweise kombiniert auftreten:
Nicht-Wahrnehmung und Verschweigen des Problems: Der Angriff wird als normale Schlägerei oder – wie in diesem Fall – als Unfall bagatellisiert. Ein verengter Rechtsextremismusbegriff, der nur Handlungen rechtsextremer Organisationen fasst, trägt dazu bei, die ideologische Komponente situativer, spontaner Überfälle auf Nichtdeutsche zu leugnen.125 Rassismus wird dann als Konstrukt auswärtiger, skandalsüchtiger Medien wahrgenommen.
Relativierung, Verharmlosung oder Verschiebung des Problems: Dieses Reaktionsmuster beinhaltet die Individua-lisierung der Tat als untypischer Einzelfall126 , die Normalisierung der Tat als bedauerlicher gesellschaftlicher Normalzustand und die Marginalisierung der Tat als Problem dissozialer, krimineller Randgruppen bzw. ortsfremder Mächte.127 Alle drei Reaktionsweisen leugnen die Verbreitung rassistischer Vorurteile innerhalb der Bevölkerung und damit die eigene Mitverantwortung. Dazu gehört auch die derzeit weit verbreitete Extremismus -These. Der Rassismus wird reduziert auf eine Sichtweise von Randgruppen der Gesellschaft, von Extremen, gegen die es gilt die normale, demokratische Mitte der Gesellschaft zu schützen. Verleugnet wird damit die statistische Tatsache, dass rassistische Haltungen auch dort sehr verbreitet sind. Ein Wegdefinieren des Problems als Problem (rechts-)extremer Ränder eignet sich v.a. zur Ablenkung vom Rassismus als gesamtgesellschaftliches Problem und zur Diffamierung offener Kritik an den gesellschaftlichen Zuständen.
Eine sehr verbreite Variante ist darüber hinaus die Vertauschung von Täter und Opfer. Die Gewalttat erscheint hier als Folge der Provokation des Opfers.128 Das Opfer ist quasi selbst Schuld, und sei es nur durch seine bloße Fremdheit.
Betroffenheit und symbolische Gesten: Gegenüber dem Verschweigen und Verharmlosen ist diese Reaktion ein Fortschritt. Die Kommune, das Land übernimmt politische Verantwortung für die Bekämpfung des Rassismus. Leider ist die Handlungs-bereitschaft der Kommunen meist an die Intensität negativer Medienberichterstattung geknüpft und beschränkt sich auf appelative, auf das beschädigte Image gerichtete Maßnahmen und nicht auf die Lebenswelt der Bevölkerung, insbesondere nicht auf die der gewaltbetroffenen Gruppen.
Lokale Interventionsstrategien sollten sich über Betroffenheitsbekundungen hinaus an der Zielstellung “Solidarisierung mit den Opfern – Entsolidarisierung mit den Tätern” orientieren. Dies beinhaltet zum einen eine klare, eindeutige öffentliche Positionierung aller relevanten Akteure gegen die rassistische Tat und das darin zum Ausdruck kommende Feindbild. Es muss deutlich werden, das die meist jugendlichen Täter für ihre Tat kein Verständnis erwarten können, sondern sich außerhalb zwischenmenschlicher Verhaltensnormen bewegen. Um dem Ausgrenzungseffekt der Gewalt, die Schaffung von “national befreiten Zonen”, zu begegnen, müssen zum anderen die Opfer der Gewalt klare gesellschaftliche Unterstützung erfahren. Konkret würde dies neben offiziellen Besuchen der Opfer und die problemlose staatliche Übernahme von Folgekosten v.a. die finanzielle und ideelle Förderung von demokratischen Jugend- und Flüchtlingsinitiativen der bisher Ausgegrenzten bedeuten.
Am Beispiel Guben wird aber auch deutlich, das all diese Maßnahmen allein keine Veränderung der Entstehungs- und Reproduktionsbedingungen des Rassismus bewirkt. Rassismus und Rechtsextremismus sind kein Jugend- oder Randgruppenphänomen, sondern werden aus der Mitte der Gesellschaft gestützt. Die dem zugrundeliegenden individuellen Einstellungsmuster werden in einem wechselseitigen Prozess produziert und reproduziert. Zentrale Instrumente dieses Prozesses sind sowohl meinungsbildende Mediendarstellungen als auch diskriminierende Sondergesetzgebungen für Ausländer.
Werden von staatlicher Seite und in den Medien Ausländer immer wieder als Belastung für die Gesellschaft dargestellt, – sei es als Belastung der Sozialkassen, sei es als Belastung des sozialen Klimas – so darf es nicht verwundern, wenn die Deutschen sie auch als Belastung empfinden. In den Erfahrungen der Betroffenen wird der Zusammenhang zwischen rassistischen Gewalttaten, Alltagsrassismus und Ausländergesetzgebung deutlich: Rassistisches Alltagsverhalten129 wird als Vorspiel zu einem möglichen gewalttätigen Angriff wahrgenommen. Die Erfahrung, von rassistischen Behördenvertretern herabwürdigend behandelt zu werden, reiht sich hierin nahtlos ein und bildet zusammen mit der rechtlichen Ungleichbehandlung ein Kontinuum rassistischer Diskriminierungen.130
Nichtdeutsche werden nicht als gleichberechtigte Menschen wahrgenommen, weil sie nicht gleichberechtigt sind. Sie unterliegen, besonders die Flüchtlinge, einer diskriminierenden Sondergesetzgebung, die sie auf eine menschenunwürdige Existenz herabdrückt und zu einer Lebensform zwingt, die in den Verdacht von Betrug und Kriminalität gerät und deshalb ausgegrenzt und abgeschoben werden muss. Das von den Ausländergesetzen produzierte Erscheinungsbild der Flüchtlinge wird hier als konkretes Anschauungsmaterial für rassistische Diskurse benutzt.131 Darüber hinaus erzeugt die Unterscheidung in “Deutschenrechte” und “Ausländerrechte” bei der Bevölkerung die Erwartung, dass Ausländer nicht dieselben Ansprüche anmelden dürfen wie Deutsche. Tun sie es anscheinend doch, wird dies als illegitime Anmaßung verstanden und löst Empörung, Wut und Aggression aus.
Ohne diese Zusammenhänge zu berücksichtigen bleibt Handeln gegen Rechtsextremismus auf Dauer folgenlos. Ohne die Aufhebung der Ausländergesetze kann es keine wirksame Bekämpfung der rechtsextremen Gewalt geben. Kommunen, Landkreise und Länder sollten sich dennoch nicht hinter ihren Mangel an Entscheidungskompetenz zurückziehen, sondern Spielräume, die das Gesetz lässt, wirksam nutzen132 und auf seine Novellierung (bzw. Abschaffung) hinwirken.
Es reicht heute schon lange nicht mehr, auf die demokratische Verfassung zu verweisen. Demokratische Grundprinzipien müssen alltäglich ausgehandelt werden und für die Menschen erfahrbar sein. Dazu gehören der Schutz von Minderheiten ebenso wie die Achtung der Menschenrechte.
Dieter Egon Wilfried Manzke
geb. 1.11.1939 in Damerow
gest. 9.8.2001 in Dahlewitz
Er verstarb durch Gewalteinwirkung:
in unserem Ort
ohne Hilfe, unbemerkt,
weil er anders lebte
und sein Dasein einige junge Menschen störte,
Täter, die aus unseren Gemeinden stammen.
mit Trauer und Zorn
Kerstin, Simone und Nicole Manzke
Tolerantes Mahlow und Freunde
Der Obdachlose Dieter Manzke (61 Jahre) wurde am 09.08.2001 in Dahlewitz erschlagen. Mit seinem Tod lässt sich eine traurige Chronik des Terrors gegenüber Obdachlosen fortschreiben. Als weitere Opfer der jüngeren Vergangenheit sind zu beklagen: Eckhard Rütz (47 Jahre) am 25.11.2000 in Greifswald, Norbert Plath (51 Jahre) am 27.7.2000 in Ahlbeck, Jürgen S. (52 Jahre) am 09.7.2000 in Wismar, Klaus Dieter Gereke am 24.6.2000 wiederum in Greifswald. Neben diesen Obdachlosen sind auch andere gesellschaftliche Minderheiten betroffen. So fiel beispielsweise jüngst ein 51-jähriger Sozialhilfeempfänger in Grimmen (Mecklenburg) einem Gewaltverbrechen zum Opfer.
Von 1989 bis 2000 wurden nach Informationen der Obdachlosenzeitung motz 107 wohnungslose Menschen von Tätern außerhalb der Wohnungslosenszene getötet. Ein Ende ist offensichtlich nicht abzusehen.
Laut motz werden die Gewalttaten seit Anfang der neunziger Jahre zunehmend von rechten Tätergruppen verübt – in Ostdeutschland wie auch in den alten Bundesländern. Seit 1998 sind es kaum noch Einzeltäter sondern zunehmend kleine Trupps von vier bis fünf Tätern. Dabei wird der rechtsextremistische Hintergrund von offiziellen Stellen meist in den Fällen geleugnet, in denen den Tätern keine entsprechende Organisationsstruktur nachgewiesen werden kann.
Dies ist auch die offizielle Sichtweise hinsichtlich der fünf geständigen Täter aus Dahlewitz, Mahlow und Blankenfelde im Alter von 17 bis 22 Jahren. In wieweit diese Sichtweise trägt, ist mehr als fraglich. So handelt es sich beispielsweise bei einem der Täter um den aus Mahlow stammenden Dirk B., einem Mitglied der rechten Mahlower Bahnhofszene. Doch ganz unabhängig von der Frage nach der Tätergesinnung: Wie »leichtfertig« jungen Männern aus unserer Region derartiges »passiert«, ist Grund genug, schockiert zu sein und Fragen nach einer gesellschaftlichen Verantwortung zu stellen.
Dahlewitz, Mahlow und Blankenfelde. Erst im Juni diesen Jahres waren diese drei Orte Zentrum einer Demonstration gegen Rassismus und für Menschlichkeit und Toleranz. Aus Anlass der Rückkehr des farbigen Bauarbeiters Noël Martin an den Ort, an dem er im November 1996 bei einem Anschlag fast ums Leben gekommen wäre, waren ca. 2.500 Bürger und Bürgerinnen in Solidarität mit dem seitdem Querschnittsgelähmten auf die Straße gegangen.
Den Geist und die Aufbruchstimmung dieser Tage scheinen zumindest die politisch Verantwortlichen der drei Gemeinden nicht mehr in sich zu tragen. Aus dem Anschlag auf Noël Martin und den damit einhergehenden Erfahrungen wurden offensichtlich keine bleibenden Erkenntnisse für einen angemessenen Umgang mit dem Tod Dieter Manzkes gewonnen. Statt der Bekundung von Abscheu und Ekel vor dieser Tat und eines eindeutigen Signals der Zurückweisung derartiger barbarischer Gewaltakte, ist offizielle Betroffenheit kaum zu vernehmen.
Trotz der zwischenzeitlichen Kontakte zwischen den drei Töchtern Manzkes und der Dahlewitzer Gemeindevertretung fühlen sich die Töchter weitgehend allein gelassen. So haben bspw. die Dahlewitzer Bürgermeister die Töchter tagelang hinsichtlich der Form und des Ortes des Begräbnisses im Ungewissen gelassen. Noch am Montag dieser Woche lautete beim Amt Rangsdorf entgegen den Wünschen der Töchter die offizielle Devise kostengünstige Beisetzung im entfernten Zossen. Mittlerweile scheint einer Beisetzung in Dahlewitz nichts mehr im Wege zu stehen. Davon wurden die Töchter Manzkes aber erst am Mittwoch, dem 5.9. durch den Dahlewitzer Bürgermeister Fritz Lenk informiert. Dessen Darstellung in der Märkischen Allgemeinen Zeitung vom 4. September, dass die Angehörigen bei der Bestattung keine Öffentlichkeit wünschen, wurde am folgenden Tag von den Töchtern dementiert. Diese können sich sehr wohl ein Begräbnis zusammen mit anteilnehmenden Mitbürgern vorstellen.
Die Zurückhaltung der politisch Verantwortlichen bezüglich einer öffentlich bekundeten Teilnahme am keineswegs nur privaten Unglück der Familie Manzke vergibt die Chance Öffentlichkeit gegenüber derartigen Taten zu mobilisieren. Eine angemessene Bestattung unter Teilnahme politisch Verantwortlicher aus den Gemeinden Dahlewitz, Mahlow und Blankenfelde würde einem obdachlosen und alkoholkranken Mitbürger nicht nur im Tod die Würde zurückgeben, die ihm die letzten Lebensjahre zunehmend verweigert wurde, sondern gleichzeitig deutlich machen, dass eine Ausgrenzung Obdachloser und anderer gesellschaftlicher Minderheiten nicht akzeptabel ist. Doch Dieter Manzke hatte offensichtlich doppelt Pech: Er war nur ein Obdachloser und …. Tote kehren nicht zurück.
Am 9. August 2010 jährte sich zum neunten Mal der Jahrestag der Ermordung des Obdachlosen Dieter Manzke durch lokale Nazis. 20 Antifaschist_innen folgten dem Aufruf der Autonomen Antifa Teltow–Fläming [aatf] zu einer Gedenkkundgebung an Manzkes Grab auf dem Dahlewitzer Friedhof. Anschließend zogen sie in einem spontanen Stadtrundgang vom Friedhof zum örtlichen Bahnhof, wobei sie Flugblätter an Passant_innen und in Briefkästen verteilten.
Dieter „Igel“ Manzke wurde am 1. November 1939 in der kleinen Gemeinde Damerow (Mecklenburg-Vorpommern) geboren. Später zog er nach Dahlewitz und arbeitete in der örtlichen Tierfuttermühle. Zu Beginn der neunziger Jahre wurde er wie viele andere erwerbslos und fand keine neue Arbeitsstelle. Manzke hatte den Status des „Dorfpenners“ von Dahlewitz – von vielen ignoriert, von wenigen gemocht, von anderen schikaniert. Ende der Neunziger lebte er zeitweilig obdachlos, bis er, von der damaligen Gemeinde Dahlewitz-Rangsdorf widerwillig geduldet, in einem Bungalow nahe des Dahlewitzer Bahnhofs Unterkunft fand.
Dort wurde er in der Nacht vom 8. auf den 9. August 2001 von fünf Nazis auf grausame Weise ermordet. Sein Leiden zog sich über mehrere Stunden hin: Zigaretten wurden auf seiner Haut ausgedrückt, immer wieder wurde er von den Nazis geschlagen, mit einem Flaschenhals und einem Besenstiel vergewaltigt, bis er schließlich ohnmächtig wurde. Daraufhin schleppten ihn die Täter hinaus und ließen ihn unter einem Strauch liegen. Im Laufe des nächsten Tages wurde seine Leiche von Nachbar_innen gefunden.
Die allgemeine Ablehnung der Bevölkerung Manzke gegenüber bestärkte die Nazis in ihrer Tat, wie diese in der polizeilichen Vernehmung angaben, hätten sie sich durch den 61-Jährigen „gestört gefühlt“ und „Ordnung schaffen“ wollen. Die sich wie es scheint von der Anwesenheit Manzkes ebenfalls gestört fühlende Amtsverwaltung Rangsdorf beabsichtigte ihn still, heimlich und kostengünstig in einem anonymen Grab zu beerdigen. Dem massiven Einsatz einiger Mahlower Bürger_innen ist es zu verdanken, dass er letztlich doch noch in einem würdigen Grab auf dem Dahlewitzer Friedhof beigesetzt wurde.
Die Pressesprecherin Tamara Levy dazu: »Wir finden es unhaltbar, dass sich die Täter mittlerweile wieder frei bewegen können, während Manzke aus dem öffentlichen Gedächtnis fast völlig verschwunden ist.« Weiterführend sagt sie: »Wir treten für eine Gesellschaft ein, in der sich Menschen frei entfalten können und nicht aufgrund mangelnder Verwertbarkeit ausgegrenzt werden.«
Quelle: INFORIOT
Kein Vergessen: Der bestialische Mord an einem Außenseiter
Christian Zielke, maz 9.8.2016
Zum 15. Todestag veranstaltet die Gemeinde Blankenfelde-Mahlow erstmal ein Gedenken am Grab von Dieter Manzke.
Von den Menschen, die seit 1990 in Brandenburg infolge rechter Gewalt starben, wurde ein Drittel aus sozialdarwinistischen Motiven getötet. Eines der Opfer war Rolf Schulze. An ihn erinnerten am 7. November 2012, genau zwanzig Jahre nach der Tat, fünfzig TeilnehmerInnen einer Gedenkkundgebung in Lehnin – nur wenige Kilometer von dem Ort entfernt, am dem der obdachlose Rolf Schulze ermordet wurde. Unter einem Vorwand, hatten die drei Täter ihn am Bahnhof Schönefeld in ihr Auto gelockt und an den Kolpinsee gefahren. Dort traten sie zunächst mit Springerstiefeln auf ihn ein und warfen ihm eine fünf Kilogramm schwere Propangasflasche auf den Kopf. Anschließend drückten sie seinen Kopf minutenlang unter Wasser, wobei Rolf Schulze laut Obduktionsbericht ertrank, bevor sie ihr Opfer schließlich mit Benzin übergossen und anzündeten. Rolf Schulze wurde am nächsten Tag von einem Angler gefunden. Die Täter konnten nach kurzer Zeit gefasst werden, weil sie sich in verschiedenen Diskotheken mit ihrer Tat rühmten. Bei seiner Festnahme sagte einer der Täter, sie hätten Rolf Schulze „aus purer Lust an Gewalt und Töten“ um gebracht. Während des Verfahrens fiel zudem die Aussage, dass „solche Menschen […] kein Recht“ hätten, „unter der strahlenden Sonne zu leben.“ Das Gericht verurteilte die drei Täter, die sich offen zu ihrer Mitgliedschaft in der „Nationalistischen Front“ und in der Wehrsportgruppe „Schönefelder Strumtruppe“ bekannten, nach dem Jugendstrafrecht zu sechseinhalb, sieben und neun Jahren Gefängnis. Wie in vielen anderen Fällen tödlicher rechter Gewalt wurde auch über den Mord an Rolf Schulze lange geschwiegen – die diesjährige Gedenkveranstaltung war die erste ihrer Art. Wichtig ist, dass ihr weitere folgen. Auch das Anbringen einer Gedenktafel gehört zu den Zielen des Bündnisses, das in Lehnin an Rolf Schulze erinnert. Denn nur ein andauerndes Erinnern kann dafür sorgen, dass Rolf Schulze und die Grausamkeiten, die ihm angetan wurde, nicht in Vergessenheit geraten.
Datenschutz Infos Es werden von YouTube keine Informationen über die Besucher auf der Website gespeichert, es sei denn, sie sehen sich das Video an.
Redebeitrag auf dem Gedenken 2012
Filmbeitrag des JWPmittendrin
Gedenkkundgebung in Erinnerung an Rolf Schulze 2015
Redebeitrag zum Gedenken am 7. November 2015 in Lehnin.
Gedenkkundgebung in Erinnerung an Rolf Schulze 2015
Am Morgen des 07. November nahmen circa 25 Personen an einer Gedenkkundgebung für den von Neonazis ermordeten Rolf Schulze in Lehnin teil. Das Gedenken findet seit dem Jahr 2012 regelmäßig auf dem Markgrafenplatz im Ortszentrum statt, denn der Ort, an dem der wohnungslose 52-jährige im Jahr 1992 ermordet wurde, befindet sich am Kolpinsee. Dieser liegt inmitten eines Waldes in der Nähe Lehnins. Vermutlich aus diesem Grund, identifizieren sich viele Lehniner_innen nicht mit dem Mord. Des Weiteren fehlt eine intensive Auseinandersetzung im Rahmen der Lokalpolitik.
Insgesamt wurden drei Redebeiträge verlesen. Der erste stammte von der „Linken Jugend Fläming“, in diesem wurden Gedenktage und ihre Bedeutung im historischen Kontext thematisiert. Im Anschluss wurde der Redebeitrag der Opferperspektive verlesen. Diese engagiert sich nicht nur im Bereich der Opferberatung sondern unterstützt zahlreiche Initiativen im Land Brandenburg die sich dem Gedenken an die Todesopfer rechter Gewalt widmen. Der Beitrag zeigte die Kontinuität der Diskriminierung von wohnungslosen Menschen seit 1993 bis heute auf. Schon während der Nazidiktatur wurden systematisch sogenannte „Asoziale“ verfolgt, eingesperrt und ermordet. Trotzdem wurde an sie keine Entschädigungen gezahlt. Die Diskriminierung setzt sich dann weiter fort, denn Polizeibedienstete, Ordnungsamtsmitarbeiter_innen und private Sicherheitsbedienstete verdrängen wohnungslose Menschen zunehmend aus Fußgängerzonen, Bahnhöfen und anderen öffentlichen Räumen. Zum Schluss ging der Redebeitrag noch auf den aktuellen Versuch von Neonazis ein, wohnungslose Menschen zu instrumentalisieren um gegen Geflüchtete zu hetzen. So kursieren unter anderem Sprüche wie „Ich helfe lieber einem deutschen Wohnungslosen als einem Asylanten“ im Netz. Gleichzeitig stellen wohnungslose Menschen eine nicht unbedeutende Gruppe unter den Todesopfer rechter Gewalt in der Bundesrepublik dar. Bei dem letzten Redebeitrag handelte es sich um den Aufruf der antifaschistischen Kampagne „fighting for 20 years“ von der Antifa Jugend Brandenburg, welcher unter http://fightingfor20years.blogsport.de/aufruf/ nachgelesen werden kann.rolfschulzegedenken2015_2
Wir werden auch in Zukunft wieder nach Lehnin kommen um an Rolf Schulze und die anderen Todesopfern zu erinnern, denn wenn wir vergessen, wohin Rassismus, Neonazismus und Kapitalismus führen, verliert unser Kampf für eine gerechte Welt seine Grundlage!
Fünf Jahre nach dem Anschlag besuchte Noel Martin 2001 Mahlow und führte eine Demonstration gegen Rassismus an. Video von der Veranstaltung u.a. mit einer Rede von Noël Martin
"Er war derjenige, der dich zum Lächeln brachte"
Interview mit Liz (Isalyn Brown) über Noël Martin
Isalyn Brown, die am liebsten nur Liz genannt wird, lernte Noël Martin 2012 kennen. 2013 begann sie, als Pflegerin für ihn zu arbeiten, und wurde später zur Leitung seines Pflegeteams. Über die Jahre entwickelten Noël und Liz ein tiefes Verständnis füreinander und wurden enge Freund:innen. Es war Liz, die in seinen letzten Momenten im Krankenhaus bei ihm war, als er am 14. Juli 2020 verstarb. Sie lebt mit ihrer Familie in Birmingham.
Isalyn Brown, die am liebsten nur Liz genannt wird, lernte Noël Martin 2012 kennen. 2013 begann sie, als Pflegerin für ihn zu arbeiten, und wurde später zur Leitung seines Pflegeteams. Über die Jahre entwickelten Noël und Liz ein tiefes Verständnis füreinander und wurden enge Freund:innen. Es war Liz, die in seinen letzten Momenten im Krankenhaus bei ihm war, als er am 14. Juli 2020 verstarb. Sie lebt mit ihrer Familie in Birmingham.
OPP: Wie würden Sie Noël Martin als Person und Ihre Rolle als seine Pflegerin beschreiben?
Liz: Noël hatte unglaublich viel Humor. Er war jovial und charismatisch. Er liebte die Menschen im Ganzen und er liebte Kinder. Kindern gegenüber war er sehr fürsorglich, er schenkte ihnen 100% Liebe. Mit Noël zu arbeiten, konnte manchmal sehr herausfordernd sein – herausfordernd aufgrund der Dinge, die er tun wollte, aber nicht tun konnte. Wenn du jemanden pflegst, musst du dich manchmal in dessen Lage versetzen. Und wenn du auf sein Leben zurückblickst… Er war ein sehr stolzer Mann, der sein Ding machte, und dann endete sein vorheriges Leben in einem sehr jungen Alter. Er wurde abhängig von anderen, um Sachen zu tun, die er zuvor alleine machen konnte. Ich kann nicht behaupten, dass ich verstehe, wie er sich fühlte, denn ich bin nicht er. Aber manchmal, wenn er frustriert war, konnte ich sehen, woher das kam.
OPP: Wie ging Noël Ihrem Eindruck nach mit seiner Behinderung um? Was war ihm wichtig im Umgang mit seiner Behinderung?
Liz: Es gab Momente, in denen er sagte: „Oh, manchmal fühle ich mich, als würde ich nicht leben, sondern nur existieren”, weil er nicht in der Lage war, bestimmte Dinge zu tun, die er tun wollte. Mir war es immer wichtig, dass ihm Leute auf eine Weise zuhören, die Noël als Person würdigt, und dass sie ihn respektvoll wie einen Menschen behandeln. Denn Noël war ein sehr würdevoller Mann. Du sagst Noël nicht, dass etwas auf eine bestimmte Art nicht gemacht werden kann – sondern du gibst dein Bestes. Er wusste, dass manche Dinge nicht zu 100% so möglich waren, wie er sie gerne hätte. Aber schon wenn du mehr als die Hälfte der Kriterien erfülltest von dem, worum er dich gebeten hatte, machte ihn das sehr glücklich.
Er liebte warmes Wetter. Doch er war oft drinnen eingesperrt und hatte nicht die Möglichkeit, zu sehen, was es in der Außenwelt noch zu sehen gibt. Aber er war ein sehr glücklicher Mann. Wenn du mit einem schlechtgelaunten Gesicht hereinkamst, war er derjenige, der dich zum Lächeln brachte. Mit ihm wurde es nie langweilig. Er hatte ein Herz aus Gold – und er konnte dich zum Lachen bringen, bis dir die Tränen kamen.
OPP: Zwischen Ihnen beiden ist über die Jahre eine sehr besondere Beziehung entstanden…
An einen Arbeitstag bei ihm erinnere ich mich besonders. Meine Schicht ging eigentlich bis zehn am Abend, aber um elf redete er immer noch mit mir. Irgendwann schaute er mich an und sagte: „Gehst du nicht nach Hause?“ Aber wie hätte ich diesen Menschen in einer solchen Lage, der gerade etwas mit mir teilte, zurücklassen können. „Es ist gut, eine Person zu haben, die zuhört“, sagte er. Und so wurde ich ein aufmerksames Ohr für Noël und unsereBeziehung begann sich zu entwickeln. Und ich realisierte, dass ich aus gutem Grund dazu bestimmt war, bei diesem Menschen zu sein.
Seit Noëlgestorben ist, habe ich noch nie in einer solchen Verfassung über ihn gesprochen. Es ist das erste Mal, dass ich dabei emotional werde. Er hat mir manchmal erzählt, was ihm früher alles passiert ist, was er als Heranwachsender durchgemacht hat. Ich dachte, wenn ich emotional werde, zerbreche ich ihn noch mehr, deshalb habe ich immer versucht, stark für ihn zu bleiben.
OPP: Was hat er Ihnen über seine Zeit in Deutschland und den rassistischen Angriff auf ihn hier erzählt?
Liz: Noël hatte zu dieser Zeit ein gutes Leben. Er hatte einen Job nach dem anderen, er verdiente gut. Manchmal kommst du an Orte, wo Leute dir das Gefühl geben, nicht willkommen zu sein. In seinem Fall nahm das ein solches Ausmaß an, dasser danach gelähmt war. Manchmal wollte er sich an diesen Tag nicht erinnern … Ein Jahr nach dem Unfall war es, als wäre er tot. Um mit einer solchen Situation umzugehen, musst du sehr stark sein – und er war ein sehr starker Mensch. Nach dem Angriff schaute er immer noch vollerLeidenschaft, wie weit man im Kampf gegen Rassismus kommen kann.
OPP: Welche gesundheitlichen Folgen hatte der Angriff für ihn – auch im Hinblick auf seinen frühen Tod im Alter von 60 Jahren?
Liz: Noël ging seinen Weg weitere 24 Jahre. Es gibt nicht viele Leute, die 24 Jahre lang überleben würden, wenn sie nur an einer Stelle liegen. Er hat eine Menge durchgemacht und ist da immer rausgekommen. Er hätte auch ein paar Tage oder Wochen nach dem Angriff sterben können, aber er blieb noch 24 Jahre am Leben – obwohl er Teile seines Körpers nicht bewegen, nicht auf seine Gesundheit achten, nicht richtig essen, nicht in Schwung bleiben konnte. Er sagte immer, dass er zu Hause sterben wolle, aber leider musste er schlussendlich doch ins Krankenhaus. Ich denke, sein Körper war erschöpft und er wusste, dass seine Zeit gekommen war.
OPP: Was hat er Ihnen über die Aktivitäten zur Erinnerung an den Angriff in Deutschland erzählt?
Liz:Die Jahrestage des Angriffs trieben ihm Tränen in die Augen – und zwar Freudentränen, wenn er sah, wie sich die Menge versammelte. Er war sehr stolz auf das deutsche Team, wenn sie ihn als Person hervorhoben, wenn sie herausstellten, was er durchgemacht hatte, und einen Raum schufen, um gegen Rassismus zu kämpfen. Wenn jemand aus Deutschland Noël besuchte, bat er vorher seine Pflegerinnen darum, alles aufzuräumen, den Besuch gut zu behandeln. So war er. Sehr fürsorglich, er wollte nicht, dass sich irgendjemand fehl am Platz fühlt.
OPP: Gibt es etwas, was Sie den Teilnehmenden der diesjährigen Gedenkwoche gerne mitteilen würden?
Liz: Noël ist jetzt von uns gegangen, aber ich glaube, er ist im Geiste dabei. Ich weiß, dass er sehr stolz wäre, dass die Menschen sich immer noch an ihn und das, was ihm passiert ist, erinnern – und dass sie so etwas niemals jemand anderem wünschen würden.
OPP: Was waren Ihrer Einschätzung nach Errungenschaften von ihm, von denen er sich gewünscht hätte, dass wir uns daran erinnern?
Liz: Noël liebte das Leben. Er wollte leben. Und ich würde sagen, die größte Errungenschaft, von der er gewollt hätte, dass sie den Menschen in Erinnerung bleibt, ist die Stiftung. Die Arbeit, die in die Stiftung gesteckt wurde, um gegen Rassismus zu kämpfen. Jedes Mal, wenn er mit dem deutschen Team sprach, fragte er: „Wie weit seid ihr inzwischen mit dem Rassismus?”
OPP: Liebe Liz, vielen herzlichen Dank, dass Sie Ihre Erinnerungen mit uns geteilt haben!
Wir bedanken uns außerdem bei Carola Lotzenburger, einer engen Vertrauten von Noël Martin aus Heidelberg, die dieses Interview ermöglicht sowie Fragen und Gedanken zum Gespräch beigetragen hat.
Das Gespräch fand am 29. April 2021 online via Zoom statt. Wir freuen uns, hier einige Ausschnitte daraus präsentieren zu können.
Interview und Übersetzung aus dem Englischen: Anne Grunwald
Erinnerung an Noël Martin
25 Jahre nach rassistischem Anschlag
Anlässlich des 25. Jahrestag des Anschlag auf Noël Martin und seine beiden Kollegen fand in Mahlow die Aktionswoche „Für Vielfalt. Gegen Rassismus“ statt. Die filmische Dokumentation der Aktionswoche ist mit deutschen und englischen Untertiteln aufrufbar
An dem Ort, an dem wir heute stehen, gehen täglich hunderte Menschen vorüber. Sie treffen Freund*innen, gehen zur Arbeit, einkaufen. Die wenigstens wissen, dass hier ein Mensch zu Tode geprügelt wurde. Keine Tafel, keine Stele erinnert an Phan Van Toan, der hier von Neonazis zu Tode geprügelt wurde.
Redebeitrag der BorG beim Gedenken an Phan Văn Toản am 31.1.21 in Strausberg
An dem Ort, an dem wir heute stehen, gehen täglich hunderte Menschen vorüber. Sie treffen Freund*innen, gehen zur Arbeit, einkaufen. Die wenigstens wissen, dass hier ein Mensch zu Tode geprügelt wurde. Keine Tafel, keine Stele erinnert an Phan Văn Toản, der hier von Neonazis zu Tode geprügelt wurde.
Wenig ist über den damals 42-Jährigen Phan Văn Toản bekannt. Er verkaufte hier am Bahnhof unverzollte Zigaretten. Wiederholt werden ihm diese von einer Gruppe rechter Trinker, welche sich an der Fahrradaufbewahrung treffen, aus dem Versteck gestohlen. Als er am 31. Januar 1997 versucht, die Männer zur Rede zu stellen, wird er von den Männern geschlagen. Einer der späteren Täter hebt Phan Văn Toản hoch und wirft ihn mehrmals auf den harten Steinboden. Dabei bricht sich dieser zwei Halswirbel, wird bewusstlos zurückgelassen. Im Krankenhaus kämpft er um sein Leben und stirbt am 30.April infolge der schweren Misshandlung.
Laut der Opferperspektive Brandenburg geht die Staatsanwaltschaft geht bei dem Angriff auf Phan Văn Toản von „Ausländerhass als bestimmendes Motiv“ aus und klagt den Haupttäter wegen Mordes an. Die 5. Strafkammer am Landgericht Frankfurt (Oder) sieht das rassistische Motiv jedoch nicht als erwiesen an und verurteilt den Haupttäter wegen Todschlags zu einer Freiheitsstrafe von neuneinhalb Jahren, ein Mitangeklagter (37) erhält ein Jahr auf Bewährung wegen gefährlicher Körperverletzung. In der Urteilsbegründung wird Rassismus als Tatmotiv verschleiert und die Tatbegründung der Täter übernommen, wonach „die Vietnamesen“ sich weiter entfernt von der Fahrradaufbewahrung, die Treffpunkt der rechten Trinkergruppe war, aufhalten sollten.
Bis heute, 24 Jahre nach seinem Tod, ist Phan Văn Toản noch immer nicht von der Bundesregierung als Opfer rechter Gewalt anerkannt. Während zivilgesellschaftliche Initiativen von mehr als 200 Toten durch rechte und rassistische Gewalt seit 1990 ausgehen, sind es bei der Bundesregierung nur 94 Mordopfer.
Rassismus tötet. Er tötet durch stumpfe Gewalteinwirkung von Neonazis. Er tötet durch Kälte und Hunger auf der Flucht. Er tötet durch Ertrinken am Mittelmeer. Er tötet durch die Taten von Rechten auf der Straße und durch Worte in den Parlamenten. Er tötet durch Wegschauen, durch Weghören, durch Vergessen.Lasst uns nicht vergessen.
Lasst uns gemeinsam Opfer von Rassismus, Rechtsextremismus und Antisemitismus gedenken und lasst uns gemeinsam dafür sorgen, dass Rassismus entgegengetreten wird.
Hier in Märkisch-Oderland und überall.
Wir dokumentieren den Redebeitrag mit freundlichem Einverständnis.
Der Tod von Phan Văn Toàn im Kontext der Baseballschlägerjahre
AIB 133, Winter 2021/2022
Der rassistische Mord an Phan Văn Toàn ist im Kontext des gesellschaftlichen und politischen Klimas der sogenannten „Baseballschlägerjahre“ einzuordnen, in der Angriffe auf (Post)migrant*innen, „Linke“ und obdachlose Menschen fast alltäglich waren.
Der Tod von Phan Văn Toàn im Kontext der Baseballschlägerjahre
AIB 133, Winter 2021/2022
Am Vormittag des 31. Januar 1997 kommt es am S-Bahnhof Fredersdorf zum Streit zwischen dem Zigarettenverkäufer Phan Văn Toàn sowie einer Gruppe von Männern, die dort regelmäßig trinken und Fahrräder bewachen. Im Zuge des Streits schlägt der 36-jährige Uwe Z. Phan Văn Toàn ins Gesicht. Dann kommt der 30-jährige Olaf S. dazu. Der über 1.90 m große und 100 kg schwere Mann packt Phan Văn Toàn an den Hüften, hebt ihn hoch und schlägt seinen Kopf mehrmals mit voller Wucht auf den Steinboden.
Phan Văn Toàn hat keine Chance, sich gegen den bulligen Mann zu wehren. Beim Aufprall erleidet er einen doppelten Lendenwirbelbruch. Daraufhin wird er ins Krankenhaus eingeliefert und liegt mehrere Tage im Koma. Fortan ist er querschnittsgelähmt und kämpft drei Monate um sein Leben.
In einer Rehabilitationsklinik stirbt er schließlich am 30.04.1997 an einem akuten Herz-Kreislauf-Stillstand. Die Obduktion ergibt, dass die Todesursache die direkte Folge des Angriffs war.
Bekannte von Olaf S. und die Staatsanwaltschaft gehen bei dem Angriff auf Phan Văn Toàn von „Ausländerhass als bestimmendem Motiv“ aus. Dementsprechend wird er wegen Mordes aus niedrigen Beweggründen angeklagt. Selbst im Gerichtssaal äußert sich Olaf S. noch rassistisch über Vietnames*innen und sagt „im Suff hab‘ ick Ausländerhass“.
Die 5. Strafkammer am Landgericht Frankfurt (Oder) sieht das rassistische Motiv jedoch nicht als erwiesen an und verurteilt den Haupttäter lediglich wegen Totschlags zu einer Freiheitsstrafe von neuneinhalb Jahren. Dabei kommt Olaf Z. zugute, dass das Gericht es mit vierprozentiger Wahrscheinlichkeit für möglich hält, dass zum Tatzeitpunkt seine diagnostizierte Persönlichkeitsstörung zum Vorschein kam und er dementsprechend vermindert steuerungsfähig gewesen sein könnte.
Der Mittäter Uwe Z. Kommt mit einem Jahr auf Bewährung davon. Die Polizei wertet den Fall ab dem Zeitpunkt nicht mehr als „fremdenfeindliche Straftat“.
Anti-asiatischer Rassismus als Teil der sogenannten „Baseballschlägerjahre“
Mit der Publikation der RBB-Dokumentarserie „Baseballschlägerjahre – Die Wendegeneration und die rechte Gewalt“ wurde der Hashtag #Baseballschlägerjahre des Journalisten Christian Bangel über den medialen Kontext hinaus zur Thematisierung von Ereignissen und Erinnerungen aus der Zeit, aufgegriffen. Beeindruckend in der Serie ist das Portrait des ehemaligen Vertragsarbeiters Nguyen Dinh Khoi, der erzählt, wie er sich mit seinen Kolleg*innen gegen rechte Übergriffe gewehrt hat[1]. Aus Asiatisch-Deutscher Perspektive sind die Progrome in Hoyerswerda (1991)[2] und Rostock-Lichtenhagen (1992)[3] stark im Fokus kollektiver Erinnerungen an die Wendezeit. Der rassistische Mord an Phan Văn Toàn ist im Kontext des gesellschaftlichen und politischen Klimas dieser Zeit einzuordnen, in der Angriffe auf (Post)migrant*innen, „Linke“ und obdachlose Menschen fast alltäglich waren. Eine größere Anzahl von ehemaligen vietnamesischen Vertragsarbeiter*innen, die nach der Wiedervereinigung in Deutschland blieb, durchlebte zwischen 1989 und 1997 eine Zeit der Prekarität und beruflichen Unsicherheit, da sie aus den Betrieben, für die sie staatlich angeworben worden waren, entlassen wurden. Erst 1997 wurde mit der zweiten Bleiberechtsregelung im deutschen Ausländergesetz eine rechtliche Grundlage für einen langfristigen Aufenthaltsstatus und somit eine Arbeitserlaubnis für den regulären Arbeitsmarkt für sie geschaffen. Diese unsichere Übergangsphase, in der beispielsweise auch Phan durch die äußeren Umstände gezwungen war, seinen Lebensunterhalt mit informellen Gelegenheitsjobs wie dem Zigarettenverkauf an S-Bahnhöfen zu bestreiten, stellte damals die Lebensrealität einer Vielzahl von Menschen dar. Die Markiertheit als „Asiatisch“ und BPOC verstärkte ihre Vulnerabilität im öffentlichen Raum. Das Gefühl, an öffentlichen Orten wie Bahnhöfen, jederzeit mit Angriffen rechnen zu müssen, muss eine große Belastung dargestellt haben. Zeitzeug*innen betonen jedoch, dass sie sich nicht ausschließlich als Opfer der damaligen Verhältnisse sehen, sie hätten ihr Leben durchgezogen, auch gefeiert, Freundschaften aufgebaut und Familien gegründet. Die Angst, insbesondere nach Anbruch der Dunkelheit im öffentlichen Raum angegriffen zu werden, hätte sie jedoch jahrelang begleitet. Dieses Lebensgefühl wird beispielsweise auch in Angelika Nguyens Film „Bruderland ist abgebrannt“(1992)[4] beschrieben und Mai Phuong Kollath, eine Aktivistin und Zeitzeugin des Progroms von Rostock-Lichtenhagen, berichtete Ähnliches auf der korientation-Diskussionsveranstaltung „Remember, Resist, Unite“[5].
Herausforderungen einer regelmäßigen Gedenkpraxis
Am 31. Januar 2021, also 24 Jahre nach dem Angriff, fand zum ersten Mal eine Kundgebung in Gedenken an Phan Văn Toàn in der Nähe des Angriffsortes am Bahnhof in Fredersdorf (bei Berlin) statt. Wegen der Pandemiesituation wurde gleichzeitig noch zu einem dezentralen Gedenken aufgerufen. Am Gedenkort hing ein Transparent, welches auf die Tat aufmerksam machte, außerdem wurden Blumen niedergelegt. Nur wenige Stunden später wurde dieser selbstgeschaffene Gedenkort zerstört. Auf dem Twitterkanal der JN (Junge Nationalisten – Jugendorganisation der NPD) Berlin-Brandenburg wurde ein Foto von vermummten jungen Männern gepostet, die mit dem umgedrehten Transparent in Hooligan-Manier posierten. Wie sich herausstellte, handelte es sich hierbei um die aktive Neonazi-Jugendgruppe „Division MOL“ [6].
Neben der Zerstörung des Gedenkortes wurden die Organisator*innen von Lokalpolitiker*innen aus Fredersdorf, die sich offenbar nicht mit dieser rassistischen Gewalttat in ihrem Ort auseinandersetzen wollen, als „Nestbeschmutzer“ bezeichnet. Für die Schaffung von einem festen Gedenkort als einen Ort der Erinnerung an Phan Văn Toàn, sowie für weitere Gedenkveranstaltungen, stellen diese beiden Punkte enorme Schwierigkeiten und Herausforderungen dar. Auch, dass die Tat schon viele Jahre zurückliegt und lokale Akteur*innen fehlen, die zu dieser Zeit davon mitbekommen haben oder vielleicht auch Freund*innen oder auch Angehörige von Phan Văn Toàn waren, erschweren den Prozess zusätzlich.
Im Nachgang der Kundgebung hat sich eine Gedenkinitiative für Phan Văn Toàn gegründet. Für die Gedenkinitiative ist klar, dass Phan Văn Toàn als Todesopfer einer rassistischen Gewalttat niemals vergessen werden soll. Durch die Kundgebung fiel auf, dass viele Fredersdorfer*innen nichts von dieser Tat wissen oder die Augen vor ihr verschlossen haben. So wurde als erste Aktion ein Infoflyer in der Nähe des örtlichen Bahnhofes verteilt, der sowohl über Phan Văn Toàn und die Tat informierte als auch konkrete Beteiligungsmöglichkeiten darstellte.
Weiterhin wurde eine Podiumsdiskussion veranstaltet, die die Tat in die bereits genannten „Baseballschlägerjahre“ einordnen sollte [7].
Phan Văn Toàns Leben nahm leider ein viel zu frühes Ende. Die Gewalttat an sich und auch sein Tod sind leider ebenfalls kein Einzelfall sondern reihen sich in eine lange Liste rassistischer und rechter Gewalttaten mit ein. Somit sehen wir, dass sowohl antifaschistische als auch gedenkpolitische Arbeit von enormer Wichtigkeit sind.
Gerne würden wir hier mit einer ausführlichen Beschreibung zu Phan Văn Toàn und seinem Leben enden wollen. Leider war es uns als Gedenkinitiative bisher kaum möglich diese Informationen zu erhalten und zusammenzutragen. Es ist lediglich bekannt, dass er zum Zeitpunkt der Tat 42 Jahre alt war, von Vietnam nach Deutschland gezogen ist und seinen Lebensunterhalt mit dem Verkauf von Zigaretten verdiente.
Quellen:
[1] Siehe die Dokumentation „Baseballschlägerjahre: Ich bleibe – Folge 6“ unter folgendem Link: https://www.youtube.com/watch?v=t5ixVow-SvY
[2] https://www.hoyerswerda-1991.de/nach-1991/gedenkkultur.html
[3] https://lichtenhagen-1992.de/pogrom/
[4] Siehe den Film unter: https://www.youtube.com/watch?v=2B3WDt6MkZk
[5] Mehr Informationen über die Veranstaltung unter: https://www.korientation.de/remember-resist-unite-diskussion-23092021/
[6] https://inforiot.de/aktive-neonazi-jugendgruppe-division-mol/
[7] Weitere Infos gibt es auch auf der Homepage der Gedenkinitiative: www.phanvantoan.de
Gedenkinitiative Phan Văn Toản
Seit 2021 setzt sich die Initiative für einen Gedenkort für Phan Văn Toản in Fredersdorf und trägt mit verschiedenen Formaten zur politischen Einordnung der Tat bei.
80 Menschen auf der Gedenkkundgebung / Nazis provozieren am Rand
An dem heutigen Sonntag fand eine Gedenkkundgebung für den, vor 20 Jahren, von Neonazis ermordeten Hans Georg Jacobsen am Bahnhof Strausberg statt. Knapp 80 Menschen folgten dem Aufruf des Sozialen Zentrum Horte mit Unterstützung von Linksaktiv Brandenburg.
In Redebeiträgen, die in deutscher und englischer Sprache gehalten wurden, wurden die Umstände des Todes von Hans Georg Jacobson erklärt und der neonazistische Hintergrund des Mordes, der in den Statistiken der staatlichen Behörden keine Erwähnung findet, betont. Vertreter_innen des Horte, der Linkspartei und des Vereins “Opferperspektive e.V.” hielten Redenbeträge. Um die Kundgebung wurden Infomationsbroschüren, die den Hintergrund der Täter beleuchteten, verteilt. Zum Ende der Kundgebung sicherte der Trägerverein des Horte, das Alternatives Jugendprojekt 1260 e.V., zu einen Gedenkstein für Hans Georg Jacobsen zu errichten und übte Kritik an der Verdrängungsstrategie der Stadt Strausberg, die sich aus der Kundgebung nicht blicken ließ.
Der Mord an Hans Georg Jacobsen und seine Täter
In der Nacht vom 28.07. auf den 29.07.1993 wurde der arbeitslose Hans Georg Jacobsen durch die drei Neonazis Thomas D. (18), René B. (20) und Henry G. (19) aus einer fahrenden S‑Bahn bei Petershagen geworfen. Nach einem Kneipenbesuch fielen die drei mit den Vorsatz Jacobsen auszurauben über den schlafenden 35-jährigen her, prügelten und traten auf ihn ein und durchsuchten seine Kleidung nach Geld. Als die Täter jedoch kein Geld bei ihm fanden, schmissen sie ihn aus der fahrenden S‑Bahn, wo er dann seinen schweren Verletzungen erlag.
Beim Gerichtsprozess im Januar 1994 zeigten sich die Täter geständig. Der Haupttäter René B. erhielt eine Haftstrafe von acht Jahren, wobei das Gericht bei ihm eine “enorme kriminelle Energie und Brutalität gegenüber Ausländer_innen” feststellte. Thomas D. und Henry G. erhielten jeweils eine Haftstrafe von sechs Jahren.
Gerade der Haupttäter René B. gehörte zum festen Bestandteil der Strausberger Neonaziszene, auch über seine Haftzeit hinaus. Während seiner Haftzeit wurde René B. durch die Hilfsgemeinschaft Nationaler Gefangener (HNG, Verboten 2011) betreut. Nach seiner Haftentlassung engagierte er sich u.a. bei der örtlichen NPD.
Nazis provozieren am Rand
Tage vor der Kundgebung wurden Hinweise deutlich, dass die örtlichen Neonazis eine Störung der Veranstaltung planten. Zum Auftakt der Kundgebung zeigten sich vier Neonazis, darunter die stadtbekannten Rocko M. und Enriko Pf., und versuchten die Teilnehmer_innen abzufotografieren. Die anwesende Bereitschaftspolizei versprerrte ihnen den Weg und hielt sie bis zum Ende der Kundgebung fest. Bis dahin vermehrten sie sich auf ein Dutzend. Ab und an verließen Einzelpersonen die Gruppe und begaben sich an den Imbiss, welcher nahe der Kundgebung gelegen war. Es blieb nur bei Provokationen.
Hans-Georg Jakobson ist tot. Getötet worden. Er wird nicht mehr lächeln, nicht mehr seine Freunde treffen. Er wird nicht mehr die Möglichkeit haben, im hohen Alter auf sein Leben zurückzublicken. Er wird nicht anklagen, er wird nicht vergeben können. Er hat keine Zukunft mehr…
Hans-Georg Jakobson ist tot. Getötet worden. Er wird nicht mehr lächeln, nicht mehr seine Freunde treffen. Er wird nicht mehr die Möglichkeit haben, im hohen Alter auf sein Leben zurückzublicken. Er wird nicht anklagen, er wird nicht vergeben können. Er hat keine Zukunft mehr.
An die durch rechten Terror Ermordeten von Hanau wird mit dem Hashtag #saytheirnames erinnert. Dieser so einfache Ausspruch macht sichtbar, was wichtig ist: Dass Todesopfer rechter Gewalt nicht namenlose Personen sind, sondern Menschen, die ein Leben hatten, Freund_innen, Familie, eine Zukunft. Das sie mehr sind als der tödliche Ausdruck neonazistischer Ideologie.
Hans-Georg Jakobson wurde von Neonazis getötet, weil diesen ein Leben nichts wert ist. Wir kannten Hans-Georg Jakobson nicht. Und doch möchten wir an ihn erinnern, wollen ihm gedenken. Was bedeutet Gedenken an Todesopfer rechter Gewalt in einer Zeit, in der Menschenverachtung salonfähig ist? In der darüber diskutiert wird, ob man es denn lassen sollte, Menschen vor dem Ertrinken im Mittelmeer zu retten? In einer Zeit, wo Menschen aufgrund rechten Terrors Angst um ihre Kinder in Shishabars, in Synagogen oder in der S-Bahn haben müssen? Angst um ihr Leben. In einer Zeit, in der der Wert eines Menschenlebens nur in dessen Arbeitsfähigkeit gemessen wird?
Warum sind wir traurig, obwohl wir Hans-Georg Jakobson nicht kannten?
Wir haben mehr Fragen als Antworten.
Wir gedenken an Hans-Georg Jakobson, weil kein Todesopfer rechter Gewalt vergessen werden sollte.
Wir erinnern an ihn, weil nichts anderes an diesem Ort an ihn erinnert. Kein Gedenkstein, kein Hinweis darauf, dass zwischen den S-Bahnöfen Strausberg und Petershagen Nord ein Mensch getötet wurde.
Wir gedenken, weil nicht vergessen werden darf, dass Nazigewalt tödlich ist. Stellvertretend für Hans-Georg Jakobson klagen wir an. Wir vergeben nicht.
Wir erinnern, weil wir aus dieser Erinnerung einen Blick auf die Zukunft werfen können.
Wir sind traurig, weil jedes Opfer rechter Gewalt eines zuviel ist. Weil es zeigt, dass wir als Gesellschaft versagt haben.
Wir dokumentieren den Redebeitrag mit freundlicher Erlaubnis.
Vor 25 Jahren ermordete ein Neonazi in Brandenburg den Punk Sven Beuter
Sven Beuter, ein Punk mit grünem Irokesenschnitt, sitzt mit Freunden in seiner Wohnung in Brandenburg/Havel und schaut Fernsehen. Als das Bier alle ist, macht er sich auf den Weg, um neues zu kaufen. Auf der Straße trifft der 23-Jährige den rechten Skinhead Sascha L., für den er eine »linke Zecke« ist. Angeblich hat der schmächtige Beute den stämmigen Sascha L. als »Nazischwein« beschimpft, so sagt L. später vor Gericht aus. Der Täter geht auf das Opfer los, das sich den Befunden der Gerichtsmedizin zufolge nicht gewehrt hat, nicht wehren konnte. Offenbar wurde Sven Beuter sofort bewusstlos geschlagen. Der Täter drischt weiter auf ihn ein, schleift ihn 50 Meter mit sich. Zwei Zeugen hören Lärm, sehen im Schnee eine Blutlache und eine rote Spur, der sie folgen. Sie finden vor der Havelstraße 13 einen Glatzkopf, der unentwegt sein am Boden liegendes Opfer mit Fußtritten malträtiert. Die beiden Männer überwältigen den Neonazi und rufen die Polizei. Doch es ist zu spät. Der ins Koma gefallene Sven Beuter wacht nicht mehr auf. Fünf Tage später erliegt er im Krankenhaus seinen schweren Verletzungen.
25 Jahre ist das her, der brutale Übergriff geschah am 15. Januar 1996. Zum Jahrestag wollte die Initiative zum Gedenken an Sven Beuter mit einer Reihe von Veranstaltungen, mit einer Ausstellung und einer Demonstration an das Opfer rechter Gewalt erinnern. Mehrere Aktivisten hatten sich bereits im Sommer 2020 getroffen, um alles gründlich vorzubereiten, erzählt Daniel Herzog. Doch Ende vergangenen Jahres wurde klar, dass sie das meiste wegen der Corona-Bestimmungen nicht wie geplant umsetzen können. So sollte die Ausstellung »Kein schöner Land« des Vereins Opferperspektive in Brandenburg/Havel gezeigt werden. Sie informiert über Opfer rechter Gewalt in Brandenburg – auch über Sven Beuter. Doch die Ausstellung musste abgesagt werden. Auch andere Veranstaltungen fielen der Pandemie zum Opfer, immerhin drei davon konnten ins Internet verlegt werden. Zwei haben bereits stattgefunden, die dritte, eine Informationsveranstaltung über die rechtsesoterische Anastasia-Bewegung, findet am 18. Februar um 19 Uhr statt. Interessierte können sich per E-Mail anmelden (initiative-svenbeuter@riseup.net).
An diesem Montag, dem 25. Todestag von Sven Beuter, war auch eine antifaschistische Gedenkdemonstration geplant. Sie sollte am Brandenburger Hauptbahnhof starten und zur Havelstraße führen. Die Antifajugend mobilisierte bereits. »Wir mahnen«, hieß es im Aufruf, »die Auswirkungen menschenverachtender Ideologien nicht aus den Augen zu verlieren und stets unsere Stimmen gegen Ausgrenzung, Diskriminierung und Verfolgung zu erheben.« Doch unter den Corona-Beschränkungen sind im Land Brandenburg derzeit keine Demonstrationen zugelassen, sondern lediglich Kundgebungen. Also wurde entschieden, am 20. Februar um 13 Uhr am Tatort an der Havelstraße 13 eine Kundgebung zu veranstalten, erklärt Anmelder Daniel Herzog. Dort wird schon seit Jahren in kleinerem Rahmen an Beuter erinnert.
In der Ausstellung »Kein schöner Land« der Opferperspektive, die jetzt leider nicht gezeigt werden konnte, wird das Schicksal des gelernten Dachdeckers Sven Beuter geschildert: Er hatte bereits vor seinem Tod mehrere Attacken von Neonazis erlebt. Schon 1993 wurde er mit Baseballschlägern angegriffen und erlitt einen Schädelbruch. Das hatte schlimme Folgen. Er musste in der Nervenklinik das Sprechen neu lernen und behielt eine leichte geistige Behinderung zurück. Bei einem weiteren Überfall 1994 wurde sein rechter Arm verletzt und blieb steif. Wegen der massiven rechten Gewalt in Ostdeutschland werden die frühen 1990er Jahre auch als »Baseballschlägerjahre« bezeichnet. Polizei und Justiz ließen bei der Aufklärung solcher Fälle häufig jede Sensibilität vermissen. So auch bei Sven Beuter. Polizeipräsidium und Staatsanwaltschaft, so heißt es, teilten seinen Tod nur kurz mit und unterschlugen dabei den politischen Hintergrund des Verbrechens, der erst Monate später publik wurde.
Dabei war der Täter Sascha L. auch vorher schon mit einschlägigen Delikten in Erscheinung getreten. Wegen des Mordes an Sven Beuter wurde er zu sieben Jahren und sechs Monaten Gefängnis verurteilt, er erhielt aufgrund von Trunkenheit (2,33 Promille) mildernde Umstände. Der Richter bescheinigt ihm eine »diffus faschistische Weltanschauung«. So diffus kann seine Gesinnung aber nicht gewesen sein. Der Täter war Neonazi und bleibt es. Nach seiner Haftentlassung wurde L. zwischen 2011 und 2019 mehrfach bei Naziaufmärschen gesichtet.
Quelle: Andreas Frische: Eine Blutlache im Schnee. Vor 25 Jahren ermordete ein Neonazi in Brandenburg den Punk Sven Beuter, ND v. 15.2.2021
Lasst uns das Gedenken mit dem Heute verknüpfen
Redebeitrag der Opferperspektive (Audio), 18.2.2016
Wir haben in den letzten Wochen ein beschämende Debatte, um eine mögliche Benennung eines Platzes oder eine Straße nach Sven erlebt. Einen Ort nach einem Todesopfer rechter Gewalt zu benennen wäre ein Zeichen der Mahnung gewesen. Die Mehrheit der Stadtverordneten hat entschieden: Ein erschlagener Punk ist nicht würdig genug, dass ein Ort nach ihm benannt wird.
Gedenkinitiative für Sven Beuter
Seit vielen Jahren organisieren damalige Freunde von Sven und antifaschistisch aktive Menschen aus Brandenburg an der Havel und der umliegenden Region jährlich das Gedenken für Sven Beuter. Kontakt: initiative-svenbeuter@riseup.net
„Für mich ist es erst abgeschlossen, wenn ich die ganze Wahrheit weiß“
Falko Lüdtke wurde am 31.05.2000 in Eberswalde von einem Neonazi vor ein vorbeifahrendes Taxi gestoßen und verstarb wenige Stunden später. Im Sommer 2015 sprach die Opferperspektive mit Sandra, einer damaligen sehr guten Freundin von Falko Lüdtke über den Schmerz des Verlustes und das Erinnern.
„Für mich ist es erst abgeschlossen, wenn ich die ganze Wahrheit weiß“
„Für mich ist es erst abgeschlossen, wenn ich die ganze Wahrheit weiß“
OP: Sandra, mit der Studie des MMZ ist Falko nach 15 Jahren als Todesopfer rechter Gewalt anerkannt worden. Deine Gedanken?
Sandra: Zwei Worte: Na endlich! Von uns wurde er immer als Todesopfer rechter Gewalt gesehen. Es hat 15 Jahre gedauert diese politische Relevanz nachzuweisen und ich habe die Befürchtung, dass es nochmals 15 Jahre dauert bis die Wahrheit ans Licht kommt.
OP: Wie hast Du vor 15 Jahren von Falkos Tod erfahren?
Sandra: Wir wollten uns alle abends in der Kneipe treffen, nur Falko fehlte noch. Ein Kumpel kam aufgelöst herein und sagte: Falko liegt auf der Spechthausener Straße, blutüberströmt, Knochen gucken aus seinem Bein heraus. Um ihn herum stehen lauter Faschos, die Erste Hilfe zu leisten versuchen. Wir waren schockiert, fuhren sofort ins Krankenhaus, aber ein Gedanke war da: Wenn Faschos um ihn herum stehen, ist das kein Zufall. Dann haben die auch etwas damit zu tun. Die Polizei suchte zu Beginn nicht einmal nach dem Täter. Falko starb und der Täter konnte flüchten. Erst als wir alle Hebel in Bewegung setzten, verschiedene Zeitungen informierten und Demos organisierten, sahen sich die Stadt und die Polizei gezwungen, etwas zu unternehmen und eine Fahndung einzuleiten. Später im Gerichtsprozess gab es viele Ungereimtheiten. Alle Zeugen waren Nazis. Vor allem haben alle Zeugen im entscheidenden Moment des Zusammenstoßes zwischen dem Taxi und Falko zufällig woanders hin geguckt. Ich bin überzeugt, dass die Faschos Falko schon vorher halbtot geschlagen haben und mit dem Taxi nur versuchten Beweise zu vertuschen. Die Betonung liegt auf Mehrzahl. Wir erhielten Hinweise, dass der verurteilte Täter für die anderen nur den Kopf hingehalten haben soll.
OP: In welcher Weise wurde in Eberswalde auf den Tod Falkos reagiert?
Sandra: Falkos Tod hat die ganze Welt interessiert, nur diese Stadt nicht. Uns rief sogar ein alter Freund aus Brasilien an, der dort davon erfahren hatte. Wenn es jemandem passiert wäre, der hier Rang und Namen hat, dann, glaube ich, wäre ein Aufschrei durch die Bevölkerung gegangen. Falko war jedoch für viele hier nur ein dreckiger Punk, der sich nicht wundern muss, wenn er totgeschlagen wird. Mein Eindruck war, dass die Leute in der Stadt eher sauer waren und keinen Bock auf einen zweiten Amadeu Antonio hatten. Schon wieder guckte alle Welt auf Eberswalde. Von der Stadt oder der Polizei haben wir in der ganzen Zeit keine Unterstützung erfahren. Die Polizeipräsidentin stellte sogar die Linken in der Gedenkdemo alle als Gewalttäter dar, denen es nicht um Falko ginge, sondern nur um Gewalt und Chaos. Um an Falko zu erinnern, haben wir einmal im Jahr an seinem Todestag die Straße für eine Stunde besetzt. Viele Autofahrer beschwerten sich darüber. Aber über ein kaputtes Menschenleben, darüber hat sich keiner beschwert … Bis heute macht es mich wütend, wie über Falko geredet und geschrieben wurde. Viele sprachen von Rangeleien „zwischen zwei gleichermaßen gewaltbereiten Jugendlichen“ und dass es genauso gut andersherum hätte enden können. Das hätte es eben nicht! Niemals hätte Falko es in Kauf genommen, dass seinetwegen jemand stirbt! Einmal war er in eine gewalttätige Auseinandersetzung verwickelt und wollte das nie wieder erleben. Daran hielt er sich die ganzen Jahre.
OP: Was war Falko für ein Mensch?
Sandra: Falko war ein liebevoller Mensch, der uns stets als seine Familie bezeichnete. Das Wichtigste für ihn war, dass es uns allen gut ging. Er hörte zu, wenn jemand Probleme hatte und teilte großzügig alles, was er besaß. Manchmal kaufte er Blumen und verschenkte sie an Bekannte, die ihm gerade begegneten. Er war ein begeisterter Leser, liebte Musik und schrieb Songtexte für befreundete Punkbands. Falko führte auch coole Aktionen durch, gab aber niemals damit an. Ihm ging es nur um die Wirkung. Einmal hängte er ein riesiges Banner mit der Aufschrift „Destroy Facism“ an einen 70 Meter hohen Schornstein, der dem rechten Jugendclub direkt gegenüber stand. Das hing dort monatelang. So bewertete ja auch die Richterin Falkos Verhalten an dem Abend als mutig und als Zivilcourage.
OP: In welcher Form wünscht Du Dir ein Gedenken an Falko?
Sandra: Wir haben uns jedes Jahr an seiner Todesstelle getroffen. Zuerst waren wir 200 Leute, die letzten Jahre saßen wir leider nur mit wenigen Menschen dort. Ich kann es den Leuten nicht verübeln und möchte auch nicht, dass unser Erinnern zu einer Pflichtveranstaltung mit Bürgermeister usw. wird wie bei Amadeu Antonio. Viele gehen glaube ich nur dorthin, weil es zum guten Ton gehört und meinen es nicht ernst. Ich will auch keinen Gedenkstein haben, der dann angepisst und beschmiert werden kann. Falko ist ja auch nicht der einzige. Ständig kommen weitere Opfer rechter Gewalt hinzu, die alle gewürdigt werden sollten.
OP: Welche Reaktion erwartest Du nun von der Stadt oder der Öffentlichkeit?
Sandra: Ich erwarte, dass sie seinen Tod endlich bedauern. Sie kannten ihn nicht, aber sie haben auch nie Interesse an seiner Person gezeigt. Dabei hat Falkos Tod viel bewirkt. Es gab einen Aufschrei, auch wenn der nicht bei allen ankam. Viele Jugendliche wurden dadurch geprägt und wollten keine Nazis werden. Für mich ist es erst abgeschlossen, wenn ich die ganze Wahrheit weiß. In unseren Herzen hat Falko seinen Stammplatz und wir werden uns immer an ihn erinnern. Freunde sterben nicht.
Aus: Opferperspektive, Schattenberichte, Im Gespräch: Sandra L.
Anlässlich der nachträglichen offiziellen Anerkennung von Falko Lüdtke als Todesopfer rechter Gewalt, geht die Journalistin Antonie Rietzschel in ihrer Reportage auf Spurensuche in Eberswalde und stellt den Forschungsbericht des Moses Mendelssohn Zentrums vor.
Bürgermeister verneint das Vorhandensein einer rechten Szene in Templin
Peter Huth, Gegenrede, 27.7.2008
Templins Bürgermeister Ulrich Schoeneich wird sich warm anziehen müssen. Verkündete er doch gestern erneut, dass es keine rechte Szene in seiner Stadt gäbe. Dummerweise behauptet Brandenburgs Innenminister Jörg Schönbohm (CDU) im Berliner „Tagesspiegel“ genau das Gegenteil…
Bürgermeister verneint das Vorhandensein einer rechten Szene in Templin
Templins Bürgermeister Ulrich Schoeneich wird sich warm anziehen müssen. Verkündete er doch gestern erneut, dass es keine rechte Szene in seiner Stadt gäbe. Dummerweise behauptet Brandenburgs Innenminister Jörg Schönbohm (CDU) im Berliner „Tagesspiegel“ genau das Gegenteil. Bei Verfassungsschutz und Polizei sei Templin schon seit längerer Zeit als Stadt mit einer rechten Szene bekannt, und „entsprechend haben wir reagiert“.
Schönbohm sagte aber auch, „die Polizei allein kann solche erschütternden Taten nicht verhindern“. Der Kampf gegen den Rechtsextremismus sei „ein gesamtgesellschaftliches Problem“. Das sah wohl Pfarrer Ralf-Günther Schein auch so und lud für Freitagabend zu einer ökumenischen Andacht, um des Opfers zu gedenken. „Wir wollen die Menschen wachrütteln“, sagte er und gegenüber „netz-gegen-nazis“, in dem Totschlag an Bernd K. sei „ein Gewaltpotenzial zu Tage gekommen, vor dem man nur Angst haben könne.“
Etwa 60 Menschen folgten seinem Ruf. Ein trauriges Häuflein, das sich da in der St.- Maria- Magdalenen-Kirche versammelte. Obwohl der Mord Stadtgespräch ist. Am Donnerstag Mittag war die Bild-Zeitung in ganz Templin ausverkauft. Zwei Fotos der Täter gab es zu besichtigen. Am Nachmittag geisterte dann das Gerücht durch die Stadt, einer der Täter hätte sich das Leben genommen. Die Leute standen an den Straßenecken in Gruppen zusammen, tauschten sich aus und diskutierten. Aber nur wenige fanden den Weg in die Kirche. Zu wenige Bürger zum Wachrütteln, auch wenn oder besser gerade weil Templins Bürgermeister Ulrich Schoeneich unter den Anwesenden war.
Mauern vor dem Kopf
Templin, umgeben von seiner historischen Stadtmauer, ist eine enge Stadt. Es gibt wenig Plätze auf denen sich Jugendliche bis spät abends treffen können, ohne dass sich die Anwohner gestört fühlen und die Polizei alarmieren.
Die rechte Szene in Templin besteht aus kleineren Gruppen und Cliquen, die sich an den wenigen möglichen Orten in Templin treffen. Sei es am Busbahnhof, in den Parkanlagen an der Anlegestelle der Touristenboote oder in der Umgebung des „Irish Pub“ mit seinen Supermarktparkplätzen., nur 300 Meter entfernt vom Mühlentor, dem Ort an dem Bernd K. ermordet wurde.
Im „Pub“, wie die Gaststätte knapp von den Jugendlichen genannt wird, treffen sich die Alternativen und die Punks. Vor seiner Tür treffen die Szenen aufeinander. Dieser Ort ist oft ein Ausgangspunkt rechter Gewalt. Die auf ihre Opfer wartenden Nazis haben dann „zufällig“ Teleskopstangen in der Tasche oder kurze Holzknüppel im Jackenärmel. „Nur einzelne Auffällige“, nennt das der Bürgermeister. Und die Opfer sind meistens Punks, die am Wochenende aus der Umgebung nach Templin kommen.
Justus, der mittlerweile in Berlin lebt, um dort seinen Zivildienst zu leisten – aber auch, weil er „die Schnauze voll hat von den ständigen Streitereien mit den Rechten“ – erzählt, dass es schon vorkomme, wenn die Rechten am Tag Punks entdecken, dass sie in der Nacht mit dem Auto jagt auf die Bunten machen.
Es kann aber auch schon Mal einen dunkelheutigeren Deutschen erwischen oder auch mehrfach wie im letzten Jahr geschehen. Mit dabei immer Sven P., der mutmaßliche Mörder von Bernd K. Mit von der Partie war damals der 22-jährige M., der gemeinsam mit seinem Bruder eher im Bereich Propagandadelikte aufgefallen war. Ein Punk berichtete, dass die Brüder mit ihrer Gruppe sogenannte Spuckies am Busbahnhof verklebten und auch Flugblätter verteilten.
Dass die Nazis kurzfristig 25 Leute mobilisieren können, beweist ihr Vorgehen gegen die Konzertveranstaltung „Reggae, Rock und Pop für den Frieden“, die im November 2007 in der St.- Maria- Magdalenen- Kirche. Die Rechtsextremisten versammelten sich vor dem Gotteshaus und grölten „Heil Hitler“ und andere rechtsextreme Parolen. Die Polizei vertrieb die Nazis und nahm vier von ihnen mit. Darunter war auch Sebastian F., der als damals 17-Jähriger an dem bestialischen Mord von Potzlow beteiligt war, und der noch unter Bewährung stand. In dessen Hosentasche fanden die Beamten einen Schlagring.
Die Polizei reagiert – die Stadt nicht
Auf den spürbaren Anstieg von rechtsextremen Straftaten in ihrem Gebiet hat die Polizei reagiert. Im November wurde für den Schutzbereich Uckermark eine Konzeption zur Prävention rechtsextremer Straftaten beschlossen. Sandra Karstädt, Pressesprecherin des Schutzbereiches Uckermark listet die Maßnahmen im einzelnen auf: „Dazu gehören Streifen mit Hundeführern, die schon einige Male einen Ausbruch von Gewalt verhindert haben.“ Dazu gehöre auch der Einsatz von Spezialkräften der Brandenburger Polizei wie Mega (mobile Einsatztrupps gegen Gewalt und Ausländerfeindlichkeit) beziehungsweise Tomeg (täterorientierten Maßnahmen gegen extremistische Gewalt). Bei größeren Veranstaltungen werde der Veranstalter und die Schutzdienste über die Situation in Templin unterricht. Man halte engen Kontakt und man spreche sich ab. Das kann eigentlich nur bedeuten, dass sie rechtsextrem wirkende Personen gar nicht erst einlassen sollen.
Noch im September 2007 konnte Sebastian F. umgeben von seiner Gang ungehindert den Hitlergruß zeigen und war trotzdem eingelassen worden. Das Ergebnis war, dass er einen Punk, der über das Zeigen des Hitlergrußes gelacht hatte, während der Veranstaltung attackierte und nach Ende der Veranstaltung Niederschlug. Zwei Dinge hat Sebastian F. mit seiner Prügelei erreicht. Für sich mehr Zeit zum Nachdenken im Knast. Sein Opfer wird die Stadt Templin in Zukunft meiden – so weit es geht.
Quelle: gegenrede. informationsportal gegen rechtsextremismus für demokratie vom 27.07.2008.
Neue Töne gegen Rechtsextremismus
PNN, 28.8.2008
Nach dem Mord fand in Templin ein Benefizkonzert gegen rechte Gewalt statt. Es nahmen rund 400 Menschen. Im Vorfeld gab es darum heftige Diskussion, weil der damalige Bürgermeister das Konzert kurzerhand abgeblasen hatte. Mit dem Verweis, in der Stadt gäbe es keine rechte Szene. Die Potsdamer Neuste Nachrichten berichteten am 25.08.2008 über das Konzert.
Erstes Gedenken mit Beteiligung des Bürgermeisters
Peter Huth, Gegenrede, 26.7.20211
Nach drei Jahren des Schweigens kommt die Stadt erstmals auf die Angehörigen, um erstmals ein öffentliches Gedenken am Grab von Bernd Köhler durchzuführen.
Zum zehnten Mal jährte sich der grauenvolle Mord an Marinus Schöberl. In der Nacht vom 12. zum 13. Juli 2002 wurde der sechzehnjährige Marinus Schöberl von drei rechtsradikalen Jugendlichen zu Tode gequält. Sie misshandelten ihn auf bestialische Weise und traten ihn schließlich mit dem sogenannten „Bordsteinkick“ zu Tode. Marinus’ Leiche verscharrten die drei Täter in einer Güllegrube neben einem Schweinestall.
Heute erinnert ein Gedenkstein neben dem Potzlower Friedhof an die schreckliche Bluttat. Um an diese brutale Ermordung von Marinus Schöberl zu erinnern und sie nicht in Vergessenheit geraten zu lassen, organisierte die Antifa-Jugend-Prenzlau und die DIE LINKE. Prenzlau gemeinsam mit dem Mobilen Beratungsteam eine „Antifaschistische Radtour“ zum Ort des Verbrechens. Am Nachmittag des 13. Juli 2012 versammelten sich elf Radfahrer, unter ihnen auch die Bundestagsabgeordnete Sabine Stüber, vor dem Prenzlauer Kino in der Friedrichstraße, die trotz des starken Regens den Weg entlang des Uckersees nach Potzlow auf sich nahmen.
In Potzlow wurde wir von etwa zehn Bürgerinnen und Bürgern der Gemeinde empfangen. Zunächst tauschten wir unsere Gedanken aus und Gerd Krug, Vorsitzender des Vereins „Mittelpunkt der Uckermark e.V.“, erzählte vom Umgang mit der Tat innerhalb des Dorfes. Danach gingen wir gemeinsam zum Gedenkstein, an dem David von der Antifa-Jugend-Prenzlau eine Gedenkrede für die Opfer rechter Gewalt hielt. Zum Zeichen der Unvergessenheit legten alle Teilnehmer weiße Nelken nieder. Wie in jedem Jahr erinnerte die Potzlower Gemeinde mit einer Gedenk-Andacht an Marinus Ermordung, denn für das Leben in einer Gemeinschaft ist die Erinnerung wichtig. Anne-Frieda Reinke und Alexander Streblow
Wir alle sind uns einig, dass wir rechtsradikalem Gedankengut keinen Raum lassen dürfen. Deshalb sprechen wir uns gegen Gewalttaten aller Art und gegen die Verharmlosung und Ignoranz nationalsozialistischer Meinungen aus. Für uns ist es von großer Bedeutung, uns für eine tolerante, antifaschistisch-demokratische Einheit stark zu machen und dies unabhängig von Parteizugehörigkeit, politischer Überzeugung, Konfession, Nationalität und ethnischer Zugehörigkeit. Aus diesen Gründen haben die Organisatoren der Gedenkfahrt schon in der Vergangenheit durch Infostände, Demonstrationen und Gedenkveranstaltungen auf rechte Gewalt und ihre Folgen aufmerksam gemacht. Auch in Zukunft wird es Veranstaltungen zur Aufklärung und zur Information geben. Im September ist mit dem „Tag der Toleranz“ mit Workshops, Unterhaltungsprogramm und vielseitigen Infoständen eine weitere Aktion geplant. Er wird am 7. September in der Prenzlauer Innenstadt stattfinden. Marinus wird uns allen unvergessen bleiben.
Erschienen in: LinksRum, Nr. 6, August 2012
Datenschutz Infos Es werden von YouTube keine Informationen über die Besucher auf der Website gespeichert, es sei denn, sie sehen sich das Video an.
Der Kick
Andres Veiel und Gesine Schmidt
Der Regisseur Andres Veiel und die Dramaturgin Gesine Schmidt haben sich über Monate auf Spurensuche nach Potzlow begeben. Die Ergebnisse ihrer Recherche verdichteten sie zu einem filmischen Protokoll für zwei Schauspieler. So wird es möglich, sich mit dem Unfassbaren zu befassen.
„Das sind doch unsere Jungs“
Saskia Weneit, Tsp., 12.9.2008
Arbeitslosigkeit, mangelndes Demokratieverständnis, rechte Jugendliche – Problemzone Uckermark. Darin Potzlow, ein Dorf in der brandenburgischen Uckermark, das vor sechs Jahren die Schlagzeilen füllte, nachdem rechtsradikale Jugendliche einen Jugendlichen töteten – und damit zum Signum wurde für das braune Brandenburg. Und heute?
Um dir ein optimales Erlebnis zu bieten, verwenden wir Technologien wie Cookies, um Geräteinformationen zu speichern und/oder darauf zuzugreifen. Wenn du diesen Technologien zustimmst, können wir Daten wie das Surfverhalten oder eindeutige IDs auf dieser Website verarbeiten. Wenn du deine Zustimmung nicht erteilst oder zurückziehst, können bestimmte Merkmale und Funktionen beeinträchtigt werden.
Funktional
Immer aktiv
Die technische Speicherung oder der Zugang ist unbedingt erforderlich für den rechtmäßigen Zweck, die Nutzung eines bestimmten Dienstes zu ermöglichen, der vom Teilnehmer oder Nutzer ausdrücklich gewünscht wird, oder für den alleinigen Zweck, die Übertragung einer Nachricht über ein elektronisches Kommunikationsnetz durchzuführen.
Vorlieben
Die technische Speicherung oder der Zugriff ist für den rechtmäßigen Zweck der Speicherung von Präferenzen erforderlich, die nicht vom Abonnenten oder Benutzer angefordert wurden.
Statistiken
Die technische Speicherung oder der Zugriff, der ausschließlich zu statistischen Zwecken erfolgt.Die technische Speicherung oder der Zugriff, der ausschließlich zu anonymen statistischen Zwecken verwendet wird. Ohne eine Vorladung, die freiwillige Zustimmung deines Internetdienstanbieters oder zusätzliche Aufzeichnungen von Dritten können die zu diesem Zweck gespeicherten oder abgerufenen Informationen allein in der Regel nicht dazu verwendet werden, dich zu identifizieren.
Marketing
Die technische Speicherung oder der Zugriff ist erforderlich, um Nutzerprofile zu erstellen, um Werbung zu versenden oder um den Nutzer auf einer Website oder über mehrere Websites hinweg zu ähnlichen Marketingzwecken zu verfolgen.