Mahlow
Gedenken für Noël Martin
In der Zeit direkt nach dem Angriff auf Noël Martin und seine beiden Kollegen Arthur B. und Mikel R. dominiert in Mahlow das Verschweigen und die Verharmlosung der Gewalttat. Ein Teil der lokalen Bevölkerung weist den drei Betroffenen des Anschlags selbst die Schuld am Geschehen zu. Journalist_innen, die zu dem Fall berichten, werden von vielen kritisch beäugt. Anstatt die rassistische Gewalt aufzuarbeiten, steht vor Ort die Befürchtung im Vordergrund, Mahlow könnte in einem schlechten Licht erscheinen.
Doch es gibt vor Ort auch Personen, die sich für die Erinnerung an den Angriff einsetzen. Mittlerweile finden jährlich Gedenkveranstaltungen in Mahlow statt – und das bereits seit vielen Jahren. Damit der 16. Juni 1996 und seine Folgen nicht in Vergessenheit geraten, erinnert auf Initiative einiger engagierter Bürger_innen seit 2001 das Mahnmal „Der Stein von Mahlow“ am Tatort an das Geschehene. Die Stadt pflanzt dort im selben Jahr zudem einen Baum der Erinnerung, der von den Schüler_innen der angrenzenden Grundschule gepflegt wird. 2007 wird der Gedenkort erweitert. [1] Seitdem ist u.a. ein Gedicht von Noël Martin dort zu lesen:
„Der Stein, den sie werfen.
Nicht wissend, was sie schuldig bleiben
dem Leben der anderen
die beraubt wurden ihres Lebens,
ihrer Kinder, ihrer Frauen.
Zwist säen sie und Hass
Der Stein, den sie werfen.
Sie wissen nichts,
nichts kümmert sie,
weil sie nicht teilen wollen
ein Land, das Leben geben kann.
Der Stein, den sie werfen.
Sie treten Gruppen bei
Ohne Rücksicht
Auf Menschen deren Haut
eine andere Farbe hat.
Was wird aus ihren Kindern werden?
Werden sie ihren Weg gehen
Werden sie Partner finden
Ganz gleich, welche Hautfarbe sie haben?
Die Leute, die Steine werfen.
Seid umsichtig
schaut euch selber an,
sucht nicht nach Steinen oder Prügel,
die Knochen brechen,
sucht nach Frieden und Gelassenheit
um mit anderen zusammen zu leben,
nicht allein.“
Noël Martin selbst ruft nach dem Angriff immer wieder dazu auf, entschieden gegen Rassismus und Neonazismus vorzugehen. Am 5. Jahrestag des Angriffs besucht er auf Einladung des Landes Brandenburg noch einmal Mahlow und führt dort eine antirassistische Demonstration an. Bei diesem Besuch setzt er sich auch für die Förderung von Jugendbegegnungen zwischen Mahlow und Birmingham ein – denn die antirassistische Arbeit mit jungen Menschen liegt ihm besonders am Herzen. Auf seine Initiative hin richtet das Land Brandenburg 2003 den „Noël- und Jacqueline-Martin-Fonds“ ein, der 2008 in die „Noël- und Jacqueline-Martin-Stiftung“ umgewandelt wird. Die Stiftung führt regelmäßig Austauschfahrten für Jugendliche durch. [2] Durch Noël Martins Engagement werden Brücken gebaut, die zum Abbau von Vorurteilen und Rassismus beitragen.
Als Überlebender von rechter Gewalt kämpft Herr Martin ein Vierteljahrhundert gegen Rassismus und Neofaschismus. Am 14. Juli 2020 stirbt er im Alter von 60 Jahren. Parallel zu seiner Beisetzung in Birmingham kommen am Mahnmal in Mahlow viele verschiedene Menschen zusammen, um seiner zu gedenken und Kränze niederzulegen. [3]
Rund um den 25. Jahrestag des Anschlags findet im Juni 2021 eine Aktionswoche in Erinnerung an Noël Martin in Blankenfelde-Mahlow statt, an der unterschiedliche Akteur_innen beteiligt sind. Am Jahrestag selbst wird in Mahlow eine Brücke nach Noël Martin benannt. [4]
Der Umgang mit der Tat ist in Blankenfelde-Mahlow bis heute gemischt: Nach wie vor gibt es Stimmen, die zu Unrecht behaupten, Noël Martin sei ‚selbst am Unfall schuld gewesen‘ – oder die von dem Angriff ‚nichts mehr wissen‘, ihn aus der öffentlichen Wahrnehmung heraushalten möchten. Im Juni 2021 schmieren Unbekannte ein feindselig gegen Noël Martin gerichtetes Graffiti an eine Wand direkt bei der kurz danach offiziell nach ihm benannten Brücke. Zugleich setzten sich einige Menschen seit vielen Jahren aktiv dafür ein, die Erinnerung an den Angriff wachzuhalten. Ihnen geht es in jüngerer Zeit vermehrt darum, die Beschäftigung mit der Tat auch zum Ausgangspunkt einer generellen Auseinandersetzung mit Rassismus und Diskriminierung zu machen.
Bei der Beisetzung Noël Martins am 14. August 2020 in Birmingham spricht Michael Schwuchow, Bürgermeister von Blankenfelde-Mahlow, folgende Worte: „Noël Martin war ein Vorbild für viele. Er setzte sich trotz seiner Leiden für die Verständigung ein. Er förderte die persönliche Begegnung und initiierte einen jährlich stattfindenden Jugendaustausch zwischen Birmingham und Blankenfelde-Mahlow. Noël Martin setzte stets auf den Dialog und die Bereitschaft, sich auf andere Menschen – egal welcher Herkunft – einzulassen. Er baute Grenzen und Vorurteile ab. Er gab Vielfalt eine Chance. Für diesen Einsatz sind wir Noël zu tiefem Dank verpflichtet. Die Bürgerinnen und Bürger unserer Gemeinde verabschieden sich heute von Noël Martin – einem ganz besonderen Menschen, der auch nach seinem Tod auf ewig mit Blankenfelde-Mahlow verbunden sein wird.“ [5]