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Angriffsdatum: 8. Mai 1993 | Todesdatum: 4. November 2000

BELAID BAYLAL

anfuehrung

„Belaid Baylal war keinesfalls nur Opfer, sondern ein Mensch, der auch ein bewusstes und aktives Leben gelebt hat.“

Martin Rubbert, Anwalt

Belaid Baylal wird 1958 in Nador, einer Stadt im Norden Marokkos, geboren. Mit gerade einmal 21 Jahren beginnt er 1979, als Gewerkschafter und Mitglied der „Partei für Fortschritt und Sozialismus“ für bessere Arbeitsbedingungen und gegen Korruption zu kämpfen. Er berichtet u.a. als Korrespondent der parteieigenen Zeitschrift „El-Bayan“ über die dramatische Lage und Ausbeutung der Landarbeiter_innen. In seinem Betrieb organisiert er als treibende Kraft zusammen mit Kolleg_innen einen Streik, um sich gegen die katastrophalen Arbeitsbedingungen zur Wehr zu setzen. Daraufhin wird er von der Polizei festgenommen und während der Haft gefoltert. Nach seiner Entlassung arbeitet er ab 1982 im Eisen- und Stahlwerk in Nador. Auch dort engagiert er sich für die Rechte der Arbeiter_innen – und wird deshalb nach anderthalb Jahren wieder verhaftet. In den nun folgenden 35 Tagen Haft wird er erneut gefoltert. [1]

Im Januar 1984 kommt es in Marokko zu einem landesweiten Aufstand. In Reaktion darauf marschiert das Militär auch in Nador ein. Es gibt mindestens 300 Tote unter den Demonstrierenden. Belaid Baylal kann zu Verwandten fliehen und versteckt sich dort viele Monate. In Abwesenheit wird er zu einer fünfjährigen Haftstrafe verurteilt. Schließlich kann er nach Algerien fliehen, muss von dort aus weiter flüchten und kommt 1991 via Libyen nach Deutschland. Hier beantragt er – inzwischen 33 Jahre alt – politisches Asyl. [2]

Ab 1992 lebt er in einer Geflüchtetenunterkunft in Bad Belzig. Dort lebt er recht zurückgezogen. Wegen seiner überlegten, ruhigen und zuverlässigen Art ist er bei allen Bewohner_innen beliebt. Manchmal schlichtet er Streitigkeiten. Er kocht gern und gut und geht nur sehr selten aus. Umso entsetzter sind seine Mitbewohner_innen nach der Tat, dass ausgerechnet er angegriffen worden ist. [3]

DER ORT

Schon zu DDR-Zeiten gibt es in Bad Belzig und Umgebung rechte Skinheads. In den frühen 1990er Jahren wird die rechte Präsenz unübersehbar – die Stadt steht in dem Ruf, dass sich rechtsorientierte Jugendliche hier „ungestraft zusammenrotten und Straftaten vorbereiten“ können. [4] Der städtische Jugendclub wird schnell von der rechten Klientel dominiert. Rechte Bands können dort ungestört proben. Alle, die von den Neonazis zu „Feinden“ oder „Fremden“ erklärt werden – vor allem linke Jugendliche und Geflüchtete aus der örtlichen Sammelunterkunft – werden immer wieder bedroht und angegriffen. Für sie gibt es überall in der Stadt gefährliche Orte. So ist zum Beispiel der Weg vom Bahnhof zur Unterkunft oft ein gefährlicher Spießrutenlauf.

Lokale Politiker_innen verharmlosen die alltägliche rechte Gewalt. So sagt etwa der damalige Bürgermeister (SPD) 2013 rückblickend über diese Zeit: „Sicher gab’s auch hier und da mal ein bisschen Gerangel von jungen Leuten untereinander und mit den angeblich Rechtsradikalen.“ Einige seien „etwas ausländerfeindlich“ gewesen, aber das habe er „alles immer als normal“ empfunden. [5]

In Reaktion auf die immer mehr zunehmenden Angriffe auf linke Jugendliche und Geflüchtete gründet sich 1993 das „Belziger Forum gegen Rechtsextremismus und Gewalt“. Ein Jahr später eröffnet dieser Initiativkreis das Infocafé „Der Winkel“, das explizit ein geschützter Treffpunkt und Kommunikationsort für „nicht rechte“ und „alternative“ Jugendliche und Erwachsene, für Geflüchtete und Migrant_innen sein soll. U.a. mit seinem Bildungs- und Beratungsangebot hat das Infocafé bis heute große Bedeutung für die Stadt. [6]

DIE TAT

Am 8. Mai 1993 wird Belaid Baylal von zwei rassistischen Gewalttätern so schwer verletzt, dass er sieben Jahre später an den Spätfolgen des Angriffs stirbt.

Den Abend des 8. Mai verbringt Herr Baylal mit vier Freunden aus der Geflüchtetenunterkunft in der Gaststätte „Birkeneck“ in der Brücker Landstraße. Gegen 23:00 Uhr betreten zwei Jugendliche die Gaststätte und beginnen, Herrn Baylal und seine Freunde rassistisch zu beschimpfen und Flaschen auf sie zu werfen. Drei der Freunde verlassen daraufhin die Gaststätte, während Belaid Baylal zusammen mit einem Freund weiter dort bleibt – denn er möchte erst noch sein Getränk zu Ende trinken. Außerdem habe er doch nichts getan und müsse deshalb nicht gehen, so argumentiert er gegenüber seinem Freund. [7]

Gegen Mitternacht greifen die rechten Jugendlichen die beiden Freunde unvermittelt körperlich an. Sie stoßen Belaid Baylal von seinem Barhocker zu Boden. Einer der Täter hält ihn von hinten fest, während der andere ihm sehr heftig in die Magengegend schlägt und tritt. Belaid Baylals Freund kann sich gerade noch rechtzeitig in Sicherheit bringen. Schwer verletzt wird Herr Baylal mit einem Rettungswagen ins Belziger Kreiskrankenhaus transportiert. Laut dem Chefarzt hat er ein stumpfes Bauchtrauma erlitten, wovon ein Teil des Dünndarms schwer betroffen ist. [8]

NACH DER TAT

Direkt nach der Tat verbringt Belaid Baylal vier Wochen in der Klinik, davon fast 14 Tage auf der Intensivstation. Er muss mehrmals operiert werden. Als Komplikation kommt eine Lungenentzündung hinzu. Nach intensiver Behandlung kann er schließlich aus der Klinik entlassen werden, muss aber schon einen Monat später wegen eines beginnenden Darmverschlusses erneut ins Krankenhaus. Aufgrund der Narben und Verwachsungen im Darm gehen die Ärzt_innen davon aus, dass Herr Baylal bleibende gesundheitliche Probleme haben wird.

In den folgenden Jahren muss sich Belaid Baylal ständig in ambulante Behandlung begeben und sein gesamtes Leben, seine Ernährung und alle Aktivitäten auf die neue Situation umstellen. Er ist viel krank, hat regelmäßig Schmerzen, kann weniger am gemeinschaftlichen Leben teilnehmen und vereinsamt zunehmend.

Noch weitere Male bewahren ihn Ärzt_innen nur knapp vor den tödlichen Folgen eines Darmverschlusses. Im Jahr 2000 spitzt sich die Situation zu: Im Februar und im Juni kommt er wieder mit dem Rettungsdienst ins Krankenhaus. Die Situation zehrt immer mehr an seinen psychischen und physischen Kräften.

Am 28. Oktober 2000 wird er schließlich erneut wegen akuter Bauchschmerzen ins Krankenhaus eingeliefert. Er lässt zwar noch eine Computertomograf-Untersuchung zu, mit deren Hilfe erneut ein beginnender Darmverschluss diagnostiziert wird, doch er lehnt die lebensnotwendige Operation ab. Infolgedessen versagen seine Atmung, Nieren- und weitere Organfunktionen, er wird künstlich beatmet und am Leben erhalten. Als er nichts mehr sagen und verweigern kann und die Ärzt_innen selbst entscheiden müssen, ist es für eine Operation zu spät.

Belaid Baylal stirbt am 3. November 2000 im Alter von 42 Jahren an Multiorganversagen. Für den Chefarzt des Belziger Kreiskrankenhauses stehen die Spätfolgen der Verletzungen vom 8. Mai 1993 zweifelsfrei als Todesursache fest. [9]

Herr Baylal wird später in Marokko begraben.

DAS VERFAHREN

Belaid Baylal - GedenkenAm 28. März 1994 beginnt der Prozess gegen die beiden Täter, die zum Tatzeitpunkt 17 und 22 Jahre alt gewesen sind. Beide sind geständig. Als Motiv geben sie an, sie würden „Ausländer“ nicht mögen und seien der Meinung, diese hätten sich nicht in deutschen Gaststätten aufzuhalten. Das Gericht sieht einen „fremdenfeindlichen Hintergrund“ als erwiesen an.

DAS GEDENKEN

Seit dem 4. November 2003 erinnert ein Gedenkstein in Bad Belzig an Belaid Baylal – nachdem sich einige Antifaschist_innen vor Ort aktiv dafür eingesetzt haben. [11] Im Jahr 2010 wird der Gedenkstein von Unbekannten geschändet. [12]

Zwischen 2004 und 2013 gibt es kein öffentliches Gedenken an die Tat. Erst 2014 finden sich wieder Menschen ein, um an Herrn Baylal zu erinnern. [13] Auch in den Folgejahren gibt es kleine Gedenkveranstaltungen an seinem Todestag. Die Erinnerung an ihn wird maßgeblich durch engagierte Personen aus dem „Belziger Forum e.V. gegen Rechtsextremismus und Gewalt“ wachgehalten.


[1] Belziger Forum e.V. (Hrsg.): Zum Beispiel Belzig: Das Leben und Sterben des Belaid Baylal. Dokumentation einer Spurensuche. Belzig, 2003, S. 6-7
[2] Ebd.
[3] Ebd.
[4] Thomas Bürk: Gefahrenzonen, Angstraum, Feindesland. Stadtkulturelle Erkundungen zu Fremdenfeindlichkeit und Rechtsradikalismus in ostdeutschen Kleinstädten, Verlag Westfälisches Dampfboot: Münster 2012, S. 145
[5] Etwas ausländerfeindlich, Neues Deuschland v. 6.6.2013.
[6] Selbstbeschreibung auf der Website des Infocafés „Der Winkel
[7] Belziger Forum e.V. (Hrsg.): Zum Beispiel Belzig: Das Leben und Sterben des Belaid Baylal. Dokumentation einer Spurensuche. Belzig, 2003, S. 6-7
[8] Ebd.
[9] Jan-Philipp Baeck: Wir haben keine Angst. in: TAZ v. 10.04.2012
[10] Bad Belzig Rechtsaussen, „Belaid Baylal“, auf: Bad Belzig Rechtsaussen 06.05.2013
[11] Frank Jansen, Heike Kleffner, Johannes Radke und Toralf Staud: 156 Schicksale. in: ZEIT Online v. 16.09.2010
[12] Anschläge in Belzig verurteilt. in: Potsdamer Neueste Nachrichten, v. 12.11.2010
[13]Aufruf vom Infocafé „Der Winkel“zum Gedenken an Belaid Baylal 2014

weitere infos

weiterführende Informationen

Zum Beispiel Belzig: Das Leben und Sterben des Belaid Baylal. Dokumentation einer Spurensuche

Broschüre, Belziger Forum e.V (Hrsg.)
„Es muss 1998 gewesen sein, als ich den Marokkaner zufällig am Kaffeetisch gemeinsamer bosnischer Freunde traf. Wir wurden einander vorgestellt, gaben uns höflich lächelnd die Hand.“ so beginnt die Spurensuche der Journalistin Kerstin Henseke.

Broschüre downloaden...

Gefahrenzonen, Angstraum, Feindesland

Buchtipp: Thomas Bürk untersucht anhand der Brandenburger Städte Wittstock und Bad Belzig den Umgang von Geflüchteten, Migrant_innen und nicht-rechten Jugendlichen mit der rechten und rassistischen Dominanz in ihrem Städten. Für die Gruppen der (potenziell) von rechter Gewalt Betroffenen ist das „Recht auf Stadt“ einer Machtgeographie der alltäglichen Bewegungsmöglichkeiten unterworfen.

Verlag Westfälisches Dampfboot: Münster 2012

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