FARID GUENDOUL
"Er hat mich eigentlich immer mit positiven Dingen angespornt und das fand ich bei ihm ganz, ganz gut."
Freundin von Farid Guendoul
Farid Guendoul wächst als eines von zehn Kindern in Tagarines, einer Armensiedlung in Algier auf. Mit Unterstützung seiner Brüder macht er das technische Abitur und studiert an der Fachhochschule Flugzeugtechnik. Nach dem Diplom arbeitet er neun Monate als Handlanger am Flughafen. Dann beschließt er, nach Europa zu fliehen, um so der Arbeitslosigkeit und dem Druck des Bürgerkrieges zu entgehen.
Im Sommer 1997 beantragt er Asyl in Deutschland. Um seine Familie zu schützen, gibt er dabei den Namen Omar Ben Noui an. Nach einem kurzen Aufenthalt im Erstaufnahmelager Eisenhüttenstadt wird er im Wohnheim Sempten untergebracht, das acht Kilometer von Guben entfernt ist. Hier lernt er Deutsch und versucht, sich mit einem selbst finanzierten Elektronikkurs weiterzubilden. [1]
Im Februar 1999 ist Farid Guendoul 28 Jahre alt. Seine Freundin erwartet ein Kind. Die gemeinsame Tochter kommt sechs Monate nach seinem Tod zur Welt.
DER ORT
Bereits Ende der 1980er Jahre kommt es in der Kleinstadt an der deutsch-polnischen Grenze zu rassistischen Angriffen auf Chemiearbeiter_innen aus Mosambik, Kuba und Vietnam. Mit der Wende formiert sich die neonazistische Gruppierung „Gubener Heimatfront”, die bundesweit vernetzt ist und mit ihrem Umfeld rund 200 Personen umfasst. Die rechte Szene wird zur bestimmenden Jugendszene und dominiert in den Folgejahren viele Freizeiteinrichtungen. Ehemalige Vertragsarbeiter_innen, Geflüchtete, linke Jugendliche werden immer wieder angegriffen und teils schwer verletzt. 1992 wird die örtliche Geflüchtetenunterkunft mehrmals angegriffen. Viele Erwachsene teilen die rassistischen Einstellungen und polenfeindlichen Ressentiments der jungen Leute aus der rechten Szene.
1993 gründet sich in Gubender Kreisverband des extrem rechten Vereins „Die Nationalen e.V.”, später „Junges Nationales Spektrum” (JNS). Die dort organisierten Neonazis führen regelmäßig Schulungen und Liederabende durch. Daneben gibt es etliche Neonaziclique in der Stadt. [2] Da es vermehrt zu rechten und rassistischen Gewalttaten kommt, initiiert die Stadt zur Schlichtung 1994 einen „Runden Tisch der Jugend” und beteiligt, geleitet durch eine völlig verfehlte akzeptierende Jugendsozialarbeit, auch “Die Nationalen e.V.” daran. Zu dieser Gruppierung gehört auch Alexander B., einer der späteren Beteiligten an der Hetzjagd, die zum Tod Farid Guendouls führt. [3] Nach dem Verbot des Vereins „Die Nationalen“ 1997 wird die Organisationsstruktur in die NPD überführt. Fortan hat deren Jugendorganisation, „Junge Nationaldemokraten“ (JN) in der Stadt das Sagen. Rechter Szenetreffpunkt ist 1999 u.a. eine Tankstelle, die direkt neben der Diskothek liegt, an der die für Farid Guendoul tödliche Hetzjagd ihren Ausgangspunkt nimmt.
Geflüchtete und andere People of Color gehen Ende der 1990er Jahre nachts, wenn möglich, nur in Gruppen aus. Die Gefahr, angegriffen zu werden, ist zu hoch und zu real.
In dieser Zeit liegt die Arbeitslosigkeit in Guben bei 21 Prozent. Fast alle größeren Betriebe haben geschlossen bzw. einen Großteil der Belegschaft entlassen.
Wie in vielen anderen Brandenburger Orten gründet sich Ende der 1990er Jahre auch in Guben ein „Forum gegen Fremdenfeindlichkeit und Gewalt“, in dem sich unterschiedliche Vereine und interessierte Einzelpersonen der Stadt zusammenfinden mit dem erklärten Ziel, dem Erstarken der extrem rechten Szene zivilgesellschaftliches Engagement entgegenzusetzen. [4]
DIE TAT
In der Nacht vom 12. auf den 13. Februar 1999 veranstalten Neonazis – ohne von der Polizei daran gehindert zu werden – eine brutale rassistische Hetzjagd auf Farid Guendoul, Khaled B. und Issaka K., durch die Farid Guendoul ums Leben kommt.
Farid Guendoul, Khaled B. und Issaka K. gehen am Abend des 12. Februar in die Diskothek „Dance-Club“, in der sie häufiger zu Gast sind. Dorthin kommen später auch der stadtbekannte Neonazi Ronny P. und weitere Mitglieder der örtlichen rechten Szene, die schon vorher zusammen Bier getrunken und rechte Musik gehört haben. Zu fortgeschrittener Zeit kommt es in der Diskothek zu einem Streit: Die Gruppe um Ronny P. behauptet, sie sei von vietnamesischen Gästen mit einer Zigarettenkippe beworfen worden. Der Konflikt eskaliert und verlagert sich vor den Eingang. Dort werden auch die beiden Kubaner Leonardo G. und Julio N., die die Diskothek gerade verlassen wollen, in die Auseinandersetzung hineingezogen. Julio N. wird dabei zu Boden gestoßen. Er findet eine Art Metallschiene und schlägt mit ihr zweimal und laut schreiend auf den Nächstbesten ein. Die Schläge treffen Ronny P. Dieser stürzt und verletzt sich dabei leicht an Händen und Knien.
Daraufhin verlassen die Neonazis die Diskothek und sammeln sich an einer nahe gelegenen Tankstelle. Sie erregen sich über die Schlägerei, rufen Freund_innen an, darunter auch Alexander B., der bei der NPD aktiv ist. Er ist eine treibende Figur der nun folgenden Geschehnisse. Unter den Rechten macht schnell eine offensichtlich komplett erlogene Version des Konfllikts in der Diskothek die Runde: Ronny P. behauptet, er sei von Julio N. „mit einer Machete aufgeschlitzt“ worden und beleidigt diesen dabei mit dem rassistischen N-Wort. [5]
Nach einem kurzen Stopp in der Diskothek kehrt die Gruppe in die Wohnung von Ronny P. zurück, in ihrer Begleitung Polizeibeamte, die sich dessen Verletzungen anschauen. Eine Anzeige wird nicht erstattet. Stattdessen verkünden die Neonazis gegenüber den Polizisten: „Das regeln wir selbst.“ [6] Die Stimmung in der Wohnung ist aufgeheizt. Auf Veranlassung der Polizei wird Ronny P. schließlich in das örtliche Krankenhaus gebracht. Der Rest der Gruppe fährt auf der Suche nach Julio N. durch die Stadt. An einer Baustelle laden die gewaltbereiten Rechten Pflastersteine in den Kofferraum und werfen damit einige hundert Meter weiter die Scheiben eines Asia-Ladens ein. In der Nähe des „Dance-Clubs“ bedrängen sie eine Besucherin, schütten ihr Bier über den Kopf und brüllen Parolen. Aus ihren Autos dröhnt die Musik der neonazistischen Band „Landser“. [7]
Unterdessen machen sich Farid Guendoul und seine Begleiter – es ist bereits nach 4:00 Uhr – zu Fuß auf den Heimweg aus der Diskothek. Noch in deren Nähe werden sie von den in Autos vorbeifahrenden Rechten entdeckt. Einer der Neonazis ruft sofort eine rassistische Beleidigung und fordert die anderen auf, anzuhalten. Die Männer springen aus den Autos und rufen: „Wir haben euch was mitgebracht: Hass, Hass, Hass“.
Farid Guendoul, Issaka K. und Khaled B. machen kehrt und flüchten in Richtung des „Dance-Clubs“. Ein Polizeiauto fährt zufällig vorbei und die drei Flüchtenden machen auf sich aufmerksam. Jedoch hält die Polizei nicht an. [8] Die Verfolger springen zurück in ihre Fahrzeuge, um den Flüchtenden den Weg abzuschneiden. Die drei laufen zwischen den Fahrzeugen durch, dann teilen sie sich auf.
Drei Angreifer verfolgen Khaled B. und bringen ihn durch einen Fußtritt zu Fall. Er kann wieder aufstehen und kurzzeitig weiter fliehen. Dann treffen ihn erneut Fußtritte in den Rücken. Er fällt zwischen parkenden Autos auf die Straße und prallt dabei mit dem Kopf gegen eine Stoßstange. Auf dem Boden liegend schreit er: „Ich bin tot, ich bin tot […] Die Blut! […] Mein Auge ist weg.“ Einer der Täter wirft einen Pflasterstein nach ihm. Khaled B. verliert das Bewusstsein. Die Angreifer lassen schließlich von ihm ab. [9]
Währenddessen versuchen Farid Guendoul und Issaka K. voller Todesangst, den Rechten zu entkommen. In seiner Panik tritt Herr Guendoul die gläserne Eingangstür der Hugo-Jentsch-Straße 14 ein. Beide kriechen durch die zersplitterte Eingangstür, um im Treppenhaus Zuflucht zu finden. Dabei verletzt sich Farid Guendoul an der Schlagader im Knie. Sie verhalten sich so leise wie möglich, schalten kein Licht an und wagen es nicht, an einer der Wohnungstüren um Hilfe zu bitten. Herr Guendoul verliert viel Blut innerhalb kurzer Zeit und wird immer schwächer. Auf seine Bitte hin versucht Issaka K., auf der Straße ein Taxi zu finden. Dabei bemerkt er, dass dort noch die Verfolger lauern. Schließlich sieht er ein Taxi, springt hinein und versucht, dem Fahrer die Situation verständlich zu machen. Der Taxifahrer fährt sofort los und bemerkt zugleich, dass er verfolgt wird. Weil ihm dies sicherer erscheint, bringt er Issaka K. in ein nahe gelegenes Bistro. Dort spricht er mit der Wirtin und bittet sie, sich um Issaka K. zu kümmern.
Sechs Rechte sind dem Taxi bis zu dem Bistro gefolgt. Die Wirtin verweigert ihnen den Zutritt und droht mit ihren Hunden. Ihr couragiertes Auftreten verunsichert die Angreifer derart, dass sie ihren Versuch, in das Bistro einzudringen, zunächst aufgeben. [10] Stattdessen rufen sie die Polizei. Die kurz darauf eintreffenden Beamten führen Issaka K. in Handschellen aus dem Bistro – eine groteske Täter-Opfer-Umkehr. Die tatsächlichen Täter verfolgen nun die Polizeiwagen. Vor der Polizeiwache kommt es zu einem heftigen Wortgefecht darüber, wie mit Issaka K. zu verfahren sei. Schließlich versuchen die Rechten, über den Zaun auf das Gelände der Wache zu gelangen – den Beamten erscheint die Situation derart bedrohlich, dass sie über einen Notruf Unterstützung anfordern. [11]
Issaka K. wird von ihnen noch bis zum Mittag in Handschellen auf der Polizeiwache festgehalten. Hingegen können die rechten Täter nach den Auseinandersetzungen vor der Polizeiwache weiterziehen. Sie holen sich erneut Steine. Damit fahren sie zum asiatischen Lokal „Drachenstübchen“ und zerstören dessen Scheiben. Fünf von ihnen begeben sich dann noch einmal in die Hugo-Jentsch-Straße, wo sie am frühen Morgen schließlich festgenommen werden.
Hausbewohner_innen haben Farid Guendoul dort in der Zwischenzeit gefunden und einen Notarzt verständigt. Doch für ihn kommt jede Hilfe zu spät – der Notarzt muss seinen Tod feststellen.
Khaled B. erwacht kurz nach 5:00 Uhr aus seiner Ohnmacht. Auf der Straße ist niemand. Er läuft zum „Dance-Club“, der bereits geschlossen hat. Der Wirt öffnet und Khaled B. berichtet von dem Überfall und bittet darum, die Polizei zu rufen. Schnell wird er zur Polizeiwache gebracht, wo er Issaka K. hinter einer Glasscheibe sitzen sieht. Mit ihm sprechen darf er nicht, erfährt nicht, was mit Farid Guendoul passiert ist. Khaled B. will eine Aussage über die Geschehnisse der Nacht machen – doch die Polizist_innen fragen ihn, weshalb er es damit so eilig habe und schicken ihn ohne Befragung fort. Er kehrt in die Geflüchtetenunterkunft zurück und wartet dort auf Farid Guendoul. Schließlich fährt er ins örtliche Krankenhaus, um sich dort nach seinem Freund zu erkundigen. Erst dort erfährt er von Farid Guendouls Tod. Eine medizinische Versorgung seiner Verletzungen wird ihm verweigert, weil er keinen Krankenschein hat, den er sich als Asylsuchender gesondert vom Sozialamt besorgen muss. [12]
DAS VERFAHREN
Am 3. Juni 1999 beginnt das Verfahren gegen elf an der Hetzjagd beteiligte Männer. Angeklagt sind sie wegen fahrlässiger Tötung, Körperverletzung, Nötigung und Volksverhetzung. Gegen einige der Angeklagten wird zugleich auch wegen anderer teilweise brutaler Taten verhandelt. Zunächst versuchen die Angeklagten ihre Zugehörigkeit zur rechten Szene noch zu vertuschen, doch mit zunehmender Verfahrensdauer wird diese auch äußerlich immer offensichtlicher. Sie betreten den Gerichtssaal in einschlägiger Szenekleidung und beteiligen sich an einem rechten Aufmarsch in Guben. Ein Angeklagter zertritt die Blumen auf dem Gedenkstein für Farid Guendoul. [13]
Das Verfahren und die Berichterstattung darüber sind durch die zahlreichen Befangenheitsanträge der Verteidigung gekennzeichnet – insgesamt über 40 Stück. Die Strategie der Verteidigung beruht darauf, den politischen Hintergrund der Tat sowie den neonazistischen Hintergrund der Angeklagten in Abrede zu stellen – und stattdessen der Polizei und insbesondere den Verletzten die Schuld an dem Geschehen zuzuschieben. So wird beispielsweise behauptet, es habe keine Hetzjagd gegeben und die Angeklagten hätten die Polizei unterstützen wollen. Farid Guendoul, Khaled B. und Issaka K. hätten sich verdächtig gemacht, weil sie weggelaufen seien. Sie hätten aufgrund einer Traumatisierung völlig unverhältnismäßig reagiert und seien letztlich selbst für den Tod Farid Guendouls verantwortlich Die Verteidigung unterstellt ihnen darüber hinaus – ohne jegliche Faktenbasis – Drogenhandel und Verstöße gegen aufenthaltsrechtliche Bestimmungen. Sie versucht zudem mehrfach, Malik Guendoul – Nebenkläger und Bruder Farid Guendouls – aus dem Verfahren auszuschließen.
Die Staatsanwaltschaft flankiert diese perfide Verteidigungsstrategie insoweit, als dass sie von Beginn der Ermittlungen an bemüht ist, den rassistischen Hintergrund der Tat in Abrede zustellen. So bleibt es der Nebenklage überlassen, die Hintergründe der Angeklagten und die Motive der Tat auszuleuchten. Entsprechenden Beweisanträgen stellt sich der Staatsanwalt regelmäßig entgegen. Er behauptet, es gebe keinerlei Hinweise darauf, dass die Täter rechtsextrem orientiert seien.
Nachdem sich das Verfahren über 17 Monate hingezogen hat, wird im November 2000 schließlich das Urteil verkündet. Die drei Rädelsführer erhalten Jugendstrafen von zwei bis drei Jahren. In sechs Fällen spricht das Gericht Bewährungsstrafen aus und in zwei weiteren Fällen sogenannte Verwarnungen.
Wolfgang Thierse, damaliger Präsident des Bundestages, spricht nach der Urteilsverkündung von einem „Skandal“ – der Rechtsstaat werde nicht mit rechtsextremen Tätern fertig, so Thierse. [14] Die Nebenklage legt Revision ein. Infolgedessen ändert der Bundesgerichtshof später das Urteil. Die Täter werden nun nicht wegen fahrlässiger Tötung, sondern wegen Körperverletzung mit Todesfolge verurteilt. Die Höhe der Strafen wird hingegen nicht geändert. [15]
Alexander B., einer der Haupttäter, ist noch viele Jahre nach der Tat aktiver Funktionär bei der NPD.
DAS GEDENKEN
Einen Tag nach dem Tod von Farid Guendoul findet eine Mahnwache und eine Demonstration in Guben für ihn statt. Auch in den nächsten Tagen und Wochen gibt es verschiedene Trauer- und Gedenkfeiern sowie Benefizkonzerte für die Familie und das Kind Farid Guendouls, das wenige Monate später geboren wird.
Auf Initiative der Antifa Guben wird im Sommer 1999 ein erster Gedenkstein für Farid Guendoul verlegt. Dieser ist in Guben für längere Zeit stark umstritten. Er wird von vielen Bewohner_innen des Ortes abgelehnt und wiederholt von Rechten geschändet.
Am Todestag Farid Guendouls organisiert eine kleine zivilgesellschaftliche Initiative regelmäßig Gedenkveranstaltungen.
weiterführende Informationen
Nichts ist, wie es vorher war.
Interview mit Khaled Bensaha, einer der beiden Überlebenden der „Hetzjagd von Guben“. Wie Farid Guendoul stammt er aus Algerien, in Guben lebte er im Heim von Ende August 1997 bis zu jener Nacht zum 13. Februar 1999. Er wurde von den Angreifern ohnmächtig schlugen. Erst am nächsten Morgen erfuhr er zufällig vom Tod seines Freundes.
Nur ein Toter mehr...
Alltäglicher Rassismus in Deutschland und die Hetzjagd von Guben
Das Buch ist eine Sammlung von Reportagen, Analysen und Interviews, die die Situation in Guben vor und nach der Tat skizzieren. Die Autor_innen unterstützten mehr als zwei Jahre die überlebenden Opfer der Hetzjagd sowie die Familie und Freund_innen von Farid Guendoul.
Unrast Verlag, 2001 (nur noch antiquarisch erhältlich)
Das kurze Leben des Omar ben Noui
Dokumentation von Kristian Kähler
Der 45-minütige Film fragt nach den Folgen der Tat für die beiden Überlebenden und die Familie von Farid Guendoul. Gezeigt wurde er erstmals im ORB-Fernsehen.