KAJRAT BATESOV
"Kajrat ging Konflikten immer aus dem Weg. Nach dem Tod seines Vaters hat mein ältester Sohn für die Familie gesorgt."
Mutter von Kajrat Batesov
Im Mai 2002 ist Kajrat Batesov 24 Jahre alt und lebt seit einem halben Jahr in Deutschland. Gemeinsam mit seiner Mutter, seinem jüngeren Bruder und seiner Großmutter wohnt er in Freyenstein, einer kleinen Gemeinde nördlich von Wittstock. Die deutsch-russische Familie ist aus Almati/Kasachstan dorthin gezogen und versucht, sich in Deutschland ein neues Leben aufzubauen. Kajrat Batesovs Ehefrau und sein kleiner Sohn sind nicht mit nach Deutschland ausgewandert. Es ist geplant, dass sie später nachkommen.
Eigentlich wollte die Familie nach Süddeutschland zu ihrer Verwandtschaft, aber das Aufnahmegesetz sieht für Aussiedler_innen eine dreijährige Wohnsitzauflage vor. So hat es die Familie im November 2001 nach Freyenstein in Brandenburg verschlagen. Es ist nicht einfach für sie, dort zu leben. Die lokale Bevölkerung begegnet der Familie häufig mit Ablehnung und Argwohn. Wenn die Brüder mit ihren Rädern nach Wittstock zur Schule oder zum Schwimmen fahren, werden sie von anderen Jugendlichen wiederholt angehalten, beschimpft und bedroht. Die Beleidigung „Scheiß Russen“ hören sie oft, werden manchmal auch mit Flaschen beworfen. Auch ihre Mutter erlebt solche Anfeindungen – auf der Straße, beim Einkaufen oder im Bus auf dem Weg zum Sprachkurs nach Wittstock. [1]
DER ORT
Die rechte Szene hat Wittstock/Dosse schon in den 1990er Jahren fest im Griff. Straff organisierte Neonazis und eine große, äußerst gewaltbereite rechte Subkultur dominieren die Jugendkultur in der 12.000-Einwohner_innen großen Kleinstadt im nördlichen Brandenburg. So werden Punks am helllichten Tag auf dem Marktplatz zusammengeschlagen und Neonazi-Skinheads überfallen linke Jugendliche in ihrer Wohnung. Menschen, die sich der rechten Dominanz nicht beugen wollen, werden bedroht, zusammengeschlagen, aus der Stadt vertrieben.
Nach der Wende ist die Industrie in Wittstock fast völlig zusammengebrochen. Für viele sind Arbeits- und Perspektivlosigkeit die Folge. In dieser Zeit gibt es in Wittstock ein Übergangswohnheim für Bürger_innen, die aus den ehemaligen Sowjetrepubliken eingewandert sind. Die Aussiedler_innen stoßen vor Ort auf viel Ablehnung. Es kommt zu vielen Spannungen zwischen alteingesessenen und neu zugezogenen Jugendlichen.
Ein rassistisch motivierter Brandanschlag auf einen Döner-Imbiss erlangt 1999 bundesweite Aufmerksamkeit. 2001 ereignet sich ein weitere schwerer Angriff. Vier rechte Skinheads stürmen die Wohnung eines Jugendlichen auf der Suche nach dessen afrodeutschem Freund. Der 18-Jährige kann über den Balkon im 2. Stock verletzt entkommen.
Kurz nach der Jahrtausendwende ist die NPD in Wittstock sehr aktiv. Sie schafft es, lose rechte Cliquen an die Partei zu binden. In den neun Monaten vor der Tat marschiert die extrem rechte Partei sechsmal durch die Kleinstadt. Laut Polizei steigen rechte Straftaten 2001 um 40 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. [2]
Die gesamten 1990er Jahre schweigt die Stadt zu den rechten Umtrieben, sodass viele Betroffene, auch wegen der fehlenden Solidarität, die Stadt verlassen müssen. Eine alternative, linke Subkultur ist in der Stadt nicht erkennbar. Erst nachdem im Herbst 2001 eine Versammlung von etwa 60 Rechten in einem Jugendclub von der Polizei aufgelöst worden ist, reagiert die Stadt endlich. Es gründet sich ein lokales Aktionsbündnis, das sich gegen rechte Gewalt und Rassismus engagiert. [3]
DIE TAT
Am 3. Mai 2002 unterschreibt Kajrat Batesov den Mietvertrag für seine eigene Wohnung in Wittstock. Gemeinsam mit seinem Freund Maxim K. fängt er noch am selben Tag an zu renovieren. Am Abend fahren sie mit ihren Rädern nach Alt-Dabern, einem Ortsteil von Wittstock. Im dortigen Übergangsheim für Aussiedler_innen wohnt Maxim K. Als sie durch den Ort kommen, schallt ihnen aus einer Kneipe Techno-Musik entgegen – für die kleine Ortschaft sehr ungewöhnlich. Die beiden beschließen, später noch einmal bei der Tanzveranstaltung vorbeizuschauen. Gegen Mitternacht fahren die Freunde mit ihren Rädern die wenigen Meter zur Diskothek, die in den Räumen der ehemaligen Gaststätte „Waldeslust“ stattfindet.
Dort kommt es im Verlauf des Abends immer wieder zu Streitigkeiten zwischen verschiedenen Besucher_innen. Der spätere Haupttäter und ein Mittäter sind häufig an ihnen beteiligt. Jedoch gehen immer andere Gäste dazwischen, schlichten oder intervenieren. Kajrat Batesov und Maxim K. unterhalten sich in der Disko in ihrer Muttersprache Russisch. Von den anderen Gästen werden sie schnell als Aussiedler identifiziert, als „Fremde“ markiert. Die beiden merken deutlich, dass sie hier nicht erwünscht sind – andere Besucher_innen der Disko rempeln sie beim Tanzen an, werfen ihnen böse Blicke zu, beschimpfen sie. Kajrat Batesov und Maxim K. können nicht verstehen, was genau gesagt wird. Doch sie spüren eine für sie nicht erklärbare Bedrohung und erinnern sich an die vielen Warnungen, besser nicht in Diskos zu gehen. Sie überlegen, wie sie aus der Situation am besten herauskommen und entscheiden sich dafür, im Hintergrund zu bleiben und abzuwarten, bis die meisten Gäste gegangen sind. [4]
Um 4:00 Uhr wollen sie zu ihren Fahrrädern gehen. Vor der Tür der Disko stehen noch viele Leute. Es kommt zu einem kurzen Streitgespräch – der genaue Anlass kann später vom Gericht nicht abschließend geklärt werden. Als Kajrat Batesov und Maxim K. sich schon abgewandt haben, gehen fünf junge Männer hinter ihnen her und greifen sie von hinten an. Später sagen die Täter aus, sie hätten „ihr Revier“ gegen „Fremde“ und „Russen“ verteidigen und den beiden einen „Denkzettel“ verpassen wollen.
Sie schlagen und treten Kajrat Batesov und Maxim K. so lange, bis diese am Boden liegen. Dann setzt sich einer der Angreifer auf den Oberkörper von Kajrat Batesov und schlägt ihm immer wieder mit der Faust ins Gesicht. Ein anderer Täter tritt mehrmals mit voller Wucht gegen Kopf und Körper von Maxim K. und Kajrat Batesov – Letzterer kann sich nicht gegen die Tritte schützen, da ein zweiter Mann weiter auf ihm sitzt. Während der Gewalteskalation bedrohen die Angreifer Maxim K. und Kajrat Batesov auch verbal und machen keinen Hehl aus ihren anti-russischen Ressentiments. So richtet der Täter M. F. zum Beispiel die menschenverachtende Aussage „Bleib endlich liegen, Scheißrusse“ gegen Maxim K.. Ein anderer schreit Kajrat Batesov an, während er auf ihm sitzt. Laut einem Zeugen ist dabei der Halbsatz„Unser Land und ihr seid die, die…“ zu verstehen. [5]
Nach vielen Schlägen und Tritten – die Angegriffenen liegen schutzlos am Boden – nimmt der Haupttäter einen 17 Kilogramm schweren Feldstein, hebt ihn über den Kopf und schleudert ihn auf den ungeschützten Oberkörper von Kajrat Batesov. Diesen Gewaltakt wiederholt er anschließend noch einmal gegenüber Maxim K. Nach den Steinwürfen steigen die Täter in ihre Autos und verlassen den Tatort. Nur der völlig betrunkene M. S. tritt immer weiter auf Maxim K. ein, bis ihn endlich andere Leute von dem Verletzten wegziehen. [6]
Einige Dutzend Diskobesucher_innen haben die Tat auch schon vorher beobachtet – jedoch ohne einzugreifen. Nur ein älterer Mann, der das Geschehen von seiner Wohnung aus gesehen hat, verständigte die Polizei.
Kajrat Batesov wird im Krankenhaus Pritzwalk ins künstliche Koma versetzt, da seine inneren Organe schwer verletzt sind. Er erwacht nur noch einmal für wenige Stunden, bevor er am 23. Mai 2002 seinen schweren Verletzungen erliegt. Maxim K. wird mit Verletzungen an Kopf, Brust und Bauch ebenfalls ins Krankenhaus eingeliefert. Er überlebt den Angriff glücklicherweise. [7]
DAS VERFAHREN
Am 4. Oktober 2002 erhebt die Staatsanwaltschaft Anklage wegen gemeinschaftlichen Totschlags gegen vier Beschuldigte und wegen gefährlicher Körperverletzung gegen einen fünften jungen Mann. Die Täter sind zum Tatzeitpunkt alle zwischen 20 und 22 Jahren alt gewesen. Im Januar 2003 beginnt der Prozess gegen alle fünf vor der Jugendstrafkammer des Landgerichts Neuruppin. Die Täter räumen zwar die Schläge und Tritte ein, den Stein will jedoch niemand geworfen haben. Auch eine rassistische Tatmotivation streiten alle ab.
Nach den vielen Prozesstagen sprechen die Staatsanwaltschaft Neuruppin und die Nebenklage von einer „Mauer des Schweigens“, mit der ein Großteil der über 50 Zeug_innen versucht, die schweigenden Angeklagten zu schützen. Fast alle haben angeblich nichts gesehen oder nichts gehört. [8] Der Staatsanwalt leitet mindestens 14 Ermittlungsverfahren wegen Falschaussage und unterlassener Hilfeleistung ein. [9]
Im März 2003 verurteilt das Gericht den Haupttäter wegen Totschlags und versuchten Totschlags in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 10 Jahren. Die anderen Angeklagten erhalten Freiheitsstrafen von einem bis sieben Jahre wegen Totschlags bzw. wegen versuchten Totschlags in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung.
Nach eigenen Angaben sind die Täter nicht Teil der rechten Szene, auch bei Hausdurchsuchungen werden keine neonazistischen CDs oder Propagandaschriften bei ihnen gefunden. Doch die Beschimpfungen während der Tat weisen sehr deutlich auf eine rassistische Motivlage hin. Im Prozess beschreibt einer der Angeklagten seine ablehnende Einstellung gegenüber Aussiedler_innen als „normal“ in Wittstock und räumt ein: „Dass ich niemals rechts war, will ich nicht sagen.“ [10] Er ist bereits vor dem Angriff auf Maxim K. und Kajrat Batesov an einem Angriff auf Aussiedler in Wittstock beteiligt gewesen. Bei der Festnahme hat die Polizei sein Handy mit einen Adler-Symbol mit Hakenkreuz und dem danebenstehenden Schriftzug „Immer, ewig“ sichergestellt. [11]
Die Nebenklagevertretung der Mutter von Kajrat Batesov wertet die Tat demnach als Mord mit einem rassistischen Motiv als niederem Beweggrund. „Ein latenter, tief verwurzelter Rassismus“ habe dazu geführt, dass im Verlauf des Diskoabends mehrere andere Auseinandersetzungen unter einheimischen Jugendlichen unblutig beendet wurden, während die Angreifer bei Kajrat Basetov und Maxim K. – im Wissen um deren Herkunft als Russlanddeutsche – hemmungslos zuschlugen und zutraten. Sie verweist auch auf eine Zeugenaussage, dass es bereits bei der Veranstaltung die Verabredung gegeben hätte, die beiden als „Fremde“ identifizierten Aussiedler nach Verlassen der Gaststätte anzugreifen. [12]
Dem Gericht reichen jedoch die vorhandenen Belege nicht aus, um „eine ausländerfeindliche Grundhaltung, Ausländerhaß oder ein allgemeines Überlegenheitsgefühl als konkreten, ausschlaggebenden Grund für die Auseinandersetzung mit den Geschädigten […] annehmen zu können“. Es urteilt entsprechend zugunsten der Angeklagten und wertet die Tat nicht als Mord. Die Kammer schließt zwar ein rechtsextremes Tatmotiv aus, aber eine „diffuse Fremdenfeindlichkeit schwang die ganze Zeit unterschwellig mit“, so die Vorsitzende Richterin in ihrer mündlichen Urteilsbegründung. Die beiden Aussiedler seien als „Fremde“ identifiziert und aus einer Mischung aus „Imponiergehabe, Hemmungslosigkeit, Betrunkenheit und ,Revierverteidigung’“ angegriffen worden, so die Vorsitzende Richterin weiter. [13]
Am letzten Verhandlungstag richtet sich die Mutter von Kajrat Batesov direkt an die jungen Männer, die für den Tod ihres Sohnes verantwortlich sind, aber kein Zeichen der Reue zeigen: „Ich habe das Gefühl, dass ein Mensch, der nicht Ihre Sprache spricht, Ihnen nichts wert ist.“ [14]
DAS GEDENKEN
Drei Wochen nach dem Tod von Kajrat Batesov nehmen 200 Menschen an einem Schweigemarsch mit Kerzen und einem Gottesdienst für den Verstorbenen teil – initiiert vom lokalen Bündnis, das sich gegen rechte Gewalt einsetzt . [15] Auch die örtliche NPD versucht, sich dem Trauerzug anzuschließen, sich scheinheilig von der Tat zu distanzieren und Kajrat Batesovs Tod für sich zu instrumentalisieren – mit der völkischen Begründung, dass Kajrat Batesov als Spätaussiedler schließlich „Volksdeutscher“ gewesen sei. [16]
Ein Jahr nach dem Tod von Kajrat Batesov richten Stadt und Landkreis auf Initiative der Kirche, des Aktionsbündnisses und anderer Unterstützer_innen ein „Haus der Begegnung“ für Spätaussiedler_innen und Alteingesessene ein.
Es dauert zehn Jahre, bis in Wittstock wieder an den Tod von Kajrat Batesov erinnert wird. Im Rahmen der Aktivitäten gegen einen Naziaufmarsch am 1. Mai 2012 erinnern die Wittstocker Kirchengemeinden und das lokale „Bündnis gegen Rechtsextremismus in Wittstock“ mit einer ökumenischen Andacht an ihn. [17] Im Redebeitrag der Opferperspektive, die Kajrat Batesovs Familie eng begleitet hat, heißt es: „Die Hinterbliebenen erwarten nicht viel von Wittstock! Sie hoffen, nach zehn Jahren des Schweigens, auf ein würdiges Andenken für ihren getöteten Sohn, Bruder und Vater und sie hoffen, dass nie vergessen wird, warum er sterben musste.“
Doch bis heute gibt es in Wittstock keinen Ort des Gedenkens an Kajrat Batesov.
weiterführende Informationen
„Ein Gefängnis ohne Gitter“
Das Leben der Russlanddeutschen in Wittstock
Opferperspektive e.V.
Die Unterstützung russlanddeutscher Aussiedler_innen in Wittstock war 2002 ein Schwerpunkt der Opferperspektive, denn die Stimmung gegenüber den Zugezogenen ist feindselig. „Die sind ja selbst schuld, wenn sie angegriffen werden“ hörten die Berater_innen oft in dieser Zeit. Wenige Wochen vor dem tödlich endenden Angriff lernen sie Kajrat Batesov und seine Familie kennen. In der Reportage berichten sie über die Begegnung mit der Familie, den Angriff und das Gerichtsverfahren.
Erinnerung einer Unerwünschten
Frank Jansen, Tsp. 15.01.2003
Im Interview spricht die Mutter von Kajrat Batesov über den unerträglichen Verlust und das schwere Leben in Freyenstein nahe Wittstock.
Von der Fremde in die Fremde
Heike Kleffner, taz 1.7.2002
Die Reportage über die Familie von Kajrat Batesvo, die täglichen rassistischen Anfeindungen und den Umgang der Stadt mit dem Angriff. In Freyenstein, sagt der ehrenamtliche Bürgermeister, „gibt es keine Kontakte der Einheimischen zu den Aussiedlern und auch keine Kontaktwünsche“.…