Judith Porath

Von den Menschen die in Brandenburg durch rechte Gewalt starben, wurden mehr als die Hälfte aus sozialdarwinistischen Motiven getötet.
Sozialdarwinismus ist eine Ideologie, die gesellschaftlich marginalisierte arme, kranke und behinderte Menschen als selbstverantwortlich für ihre Situation darstellt und sie vor allem als Last für die Mehrheitsgesellschaft darstellt, um ihnen so das recht auf Hilfe und Unterstützung abzusprechen.

Der Begriff wurde geprägt in Anlehnung an die von Charles Darwins (1809-1882) auf Flora und Fauna bezogenen Evolutionstheorien von der natürlichen Auslese (survival of the fittest). Diese wurden auf die Analyse menschlicher Gesellschaft übertragen. Darwins Feststellung, dass in der Natur die Individuen (Tiere oder Pflanzen), die am besten an bestimmte klimatische, geographische o.ä. Verhältnisse angepasst (fit) sind, häufiger überleben und ihre Eigenschaften an ihre Nachkommen weitergeben, wurde dabei verändert. Daraus wurde die Behauptung abgeleitet, dass es ein auf die menschliche Gesellschaft anwendbares Naturgesetz gebe, wonach sich die stärksten Individuen durchsetzen. Nach dieser Vorstellung soll die Unterstützung Schwächerer dazu führen, dass sich deren angeblich unveränderlich existierenden negativen Eigenschaften durch Vermehrung stärker verbreiten und so die ganze Gesellschaft schwächen: „In der Natur sorge die Selektion dafür, dass nur die Stärksten ihre Anlagen an die nächste Generation weitergeben könnten. Wenn dieser Filter in den menschlichen Gesellschaften wegfalle, Medizin und die Sorge um Schwächere diese überleben ließe, müsse ein Volk degenerieren.“ [1]

Sozialdarwinistisch motivierte Gewalt trifft vor allem Menschen, die an den sozialen Rand der Gesellschaft gedrängt leben. Sie sind zum Beispiel alkoholkrank, wohnungslos oder psychisch krank. Gemeinsam ist ihnen, dass sie von den Täter_innen als „Penner“, „Schmarotzer“ oder „Spinner“ stigmatisiert – und deshalb als minderwertig verachtet werden. Obdachlose stellen eine besondere von rechter Gewalt bedrohte Gruppe dar. Aufgrund des Lebens auf der Straße und/oder durch Mehrfachproblematiken wie Alkoholkrankheit, psychische Beeinträchtigungen und gesundheitliche Probleme sind sie ihren Peiniger_innen praktisch wehrlos ausgeliefert. [2] Sie werden vor allem an ihren Schlafplätzen – in Gartenlauben, Abrisshäusern und auf Parkbänken – überfallen und ermordet. Die Taten zeichnen sich durch besondere Brutalität aus, die häufig in regelrechte Gewaltexzesse mündet. Die meist wehrlosen, schlafenden und alkoholisierten Betroffenen werden gefoltert, gedemütigt, angezündet, mit Stiefeln zu Tode getreten oder mit Baseballschlägern zu Tode geprügelt.

Eine Folge menschenverachtender rechter Ideologie

Die meisten Taten werden von Jugendlichen und jungen Erwachsenen verübt, die nicht Teil der organisierten extrem rechten Szene sind. Auch deshalb wirken sie bei oberflächlicher Betrachtung willkürlich und unpolitisch. Die Auswahl der Opfer erfolgt jedoch gezielt, das von Ungleichwertigkeitsvorstellungen geprägte Menschenbild der Täter_innen spielt dabei eine zentrale Rolle. Die Angreifer_innen haben zumindest Fragmente rechter Ideologie verinnerlicht, die für die Taten entscheidend sind. „Armut, soziale Ausgrenzung, Wohnungslosigkeit gelten ihnen als Beweis für die Minderwertigkeit des Opfers und dienen zugleich als Legitimation der Tat“ resümierte die Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe im Jahr 2000. [3] Dies wird deutlich, wenn die Täter_innen gegenüber Strafverfolgungsbehörden und Gerichten keinen anderen Anlass für die Tat benennen können außer Verachtung für sozial Marginalisierte: „Penner klatschen“, „Ordnung schaffen“, „eine Abreibung verpassen“, so lauten ihre menschenverachtenden Worte zur Beschreibung ihres Motivs. Sie betrachten die Angegriffenen als wertlos.

Gewalt mit einem gesellschaftlichen Nährboden

Damit knüpfen die Täter_innen an gesellschaftlich verankerte Abwertungen von wohnungslosen, alkoholkranken und langzeitarbeitslosen Menschen an. Darauf weisen seit vielen Jahren auch die Mitte-Studien des Institut für Interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung (IKG) an der Universität Bielefeld hin. Sozial an den Rand Gedrängte werden als ,überflüssig‘ wahrgenommen, als Belastung für die Gesellschaft empfunden und deshalb abgelehnt.
Die rechten Täter_innen haben solche Haltungen radikalisiert indem sie die Gesellschaft von „unerwünschten Elementen“ befreien wollen. Diese Verachtung hat ein historisches Vorbild in der Stigmatisierung und Verfolgung von Menschen mit Behinderungen und jenen, die im Nationalsozialismus als „Asoziale“ galten. Bei beiden Gruppen nahm man an, dass diese Eigenschaften durch Vererbung weitergegeben würden. Bereits die 1905 gegründete Gesellschaft zur Rassenhygiene setzte sich für die Legalisierung eugenisch begründeter Sterilisationen ein, um „erbkranken Nachwuchs“ zu verhindern. Ab 1933 wurde mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten die Rassenhygiene gesetzlich verankerte Politik. Auf Grundlage des „Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ wurden bis 1945 etwa 400.000 Menschen zwangssterilisiert und in Europa mindestens 300.000 Menschen, darunter tausende geistig oder körperlich behinderte Kinder, Patient_innen aus Heil- und Pflegeanstalten sowie psychisch kranke und arbeitsunfähige KZ-Häftlinge, getötet. [4]

Hohe Dunkelziffer und fehlendes öffentliches Interesse

Die Opferperspektive dokumentiert neun Tötungsdelikte, die seit dem 3. Oktober 1990 in Brandenburg aus sozialdarwinistischen Motiven begangen wurden. Hinzu kommen der Mord an Marinus Schöberl, bei dem neben antisemitischen Motiven auch ein sozialdarwinistisches Weltbild wesentlich war, sowie zwei Verdachtsfälle. Laut der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslose e.V. muss darüber hinaus von einer immensen Dunkelziffer ausgegangen werden. So kamen zwischen 1989 und 2021 mindestens 267 wohnungslose Menschen durch Täter_innen außerhalb der Wohnungslosenszene ums Leben. [5] Die hinter den Taten stehenden Motive sind unklar.
In der Öffentlichkeit bleibt diese Gewalt meist unsichtbar. Die Medien berichten nur selten über Tötungsdelikte gegen Wohnungs- bzw. Obdachlose. Auch von den Ermittlungsbehörden wird der rechte, sozialdarwinistische Tathintergrund fast immer ignoriert oder sogar geleugnet; öffentliche Anteilnahme und Solidarität bleiben aus. Ein weiterer Grund für diese Unsichtbarkeit dürfte sein, dass Wohnungslose über keine einflussreiche Lobby verfügen, über keine Interessenverbände, die Druck ausüben könnten, damit polizeiliche Ermittlungen gründlich geführt werden und ein mögliches politisches Motiv in Betracht gezogen wird.

Fehlende Erinnerung

Erinnern bedeutet die Getöteten zu würdigen, ihnen ihren Name zurück zu geben und die Taten anzuklagen. Erinnern bedeutet nicht zu vergessen.
Leider gibt es in Brandenburg für die Opfer rechter Gewalt, die aus sozialdarwinistischen Motiven getötet wurden, nur wenige Erinnerungsorte im öffentlichen Raum. So setzt sich die Ausgrenzung der Opfergruppe über ihren Tod hinaus fort. Einzig für Emil Wendland und Marinus Schöberl wurden offizielle Orte des Erinnern und Mahnens geschaffen. An das Schicksal von Emil Wendland erinnert eine Gedenkstele im Neuruppiner Rosengarten. Sie wurde 20 Jahre nach seinem Tod eingeweiht. Das es diesen Ort überhaupt gibt, ist der Initiative des Jugendzentrum MittenDrin zu verdanken. Im uckermärkischen Potzlow wurde an der Kirche kurz nach dem Mord von Marinus Schöberl ein Gedenkstein errichtet. Selbst öffentliche Gedenkveranstaltungen finden nur an einigen Orten statt. Sie werden häufig von antifaschistisch Aktiven organisiert. Nur selten nehmen staatliche oder kirchliche Vertreter_innen teil oder finden sich breitere zivilgesellschaftliche Gedenkinitiativen zusammen. Auffällig ist außerdem, dass Gedenken für diese Opfergruppe oft nur sporadisch, zum Beispiel anlässlich besonderer Jahrestage, veranstaltet werden und eine langfristige Auseinandersetzung mit den gesellschaftlichen Hintergründen die diese Taten begünstigen meist vermieden wird.
„Die Tatsache, dass Menschen auf der Straße leben müssen, während Häuser leerstehen, ist ein Beweis für die soziale Kälte dieser Gesellschaft. Es liegt an jeder und jedem von uns, für eine menschenwürdige Welt einzutreten.“ so die Initiative „Niemand ist vergessen, Neuruppin“ in ihrem Vorschlag für den Text auf der Gedenktafel für Emil Wendland. [6]