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Angriffsdatum: 13. Juli 2002

MARINUS SCHÖBERL

anfuehrung

Ich gucke abends am Fenster, denke, er kommt, irgendwann kommt er. Ich habe immer gewartet. Dann sitze ich unten auf der Bank, warte."

Mutter von Marinus

Marinus Schöberl wird am 4. September 1985 in Wolfen (Sachsen-Anhalt) geboren. 2002 lebt er mit seiner Familie in der Uckermark – in Gerswalde, einem Dorf zehn Kilometer südwestlich von Potzlow. Er hat blond gefärbte Haare und trägt Hip-Hop-Kleidung. Als er ermordet wird, ist er 16 Jahre alt. [1] Leider ist uns nur sehr wenig über ihn bekannt.

DER ORT

Die Region, zu der auch das kleine Dorf Potzlow gehört, liegt südlich von Prenzlau, mitten in der Uckermark. In dem Landkreis gibt es seit langem eine aktive und jugendkulturell meist dominante extrem rechte Szene. Sie ist zum Beispiel in den Wahlkämpfen aktiv und klebt Plakate und Aufkleber der NPD.

Die meist unorganisierten rechten Cliquen sind tief in den dörflichen sozialen Strukturen verankert. Dabei verschwimmen oft die Grenzen zwischen rechten und unpolitischen Jugendlichen. Denn oftmals herrschen in der Szene keine geschlossenen neonazistischen Weltbilder vor, stattdessen mischen sich Ideologiefragmente und eine ausgeprägte Ablehnung von allem ,Fremden‘ mit einer massiven Gewaltbereitschaft. [2] Doch auch dabei wird menschenverachtendes Gedankengut offen verbreitet. Ein Beispiel ist das antisemitische Plakat, das zwei Zehntklässler aus Gerswalde 2001 auf der Rückreise von einer Klassenfahrt am Heckfenster ihres Busses befestigen. [3]

Treffpunkte der rechten Szene sind einige Jugendräume in den Dörfern, alte LPG-Anlagen, Kneipen und in der warmen Jahreszeit die zahlreichen Seen der Region, an denen die Polizei mehrmals Lagerfeuer und Zeltlager auflöst. Die Stadt- und Dorffeste sind Anziehungspunkte für die rechte Szene aus der ganzen Region und damit „No go areas“ für alternative Jugendliche wie Punks oder Hip-Hopper_innen, Geflüchtete, Aussiedler_innen, Schwarze Menschen und People of Color. Aber auch an Bushaltestellen und in Schulbussen werden vor allem Kinder und Jugendliche aus diesen Betroffenengruppen drangsaliert und körperlich attackiert.

DIE TAT

Marinus Schöberl besucht am 12. Juli 2002 zunächst ein Dorffest. [4] Am späteren Abend trifft er in Strehlow, einem Nachbarort von Potzlow, bei gemeinsamen Bekannten auf S. F. und die Brüder M. S. und M. S., die dort große Mengen Bier trinken. Nach Mitternacht ziehen die drei und mit ihnen Marinus Schöberl zum Nachbargrundstück, um dort weiterzutrinken. Weil die Bewohner_innen des Nachbarhauses bereits schlafen, zerschlagen sie eine Fensterscheibe, um sich Zugang zum Haus zu verschaffen. Anschließend wecken sie die im Haus lebende Frau S. und ihren Partner. Gemeinsam setzen sie sich mit einer Flasche Schnaps auf die Veranda. Über den weiteren Verlauf sagt einer der Täter in der späteren Vernehmung aus: „Mein Bruder M. fing dann an, den Marinus zu beschimpfen. Er fragte und sagte immer wieder, ob er oder dass er ein Jude sei. Frau S. sagte, Marinus solle doch zugeben, dass er ein Jude sei, dann wäre Ruhe. Marinus hat dann irgendwann ja gesagt, dass er ein Jude sei. Ruhe war dann auch nicht. Dann ging es richtig los.“ [5]

An diesem Punkt beginnen die beiden Brüder und S. F., Marinus Schöberl aufs Schwerste zu misshandeln. Zunächst flößen sie ihm Bier und Schnaps ein, sodass er sich übergeben muss. Dabei bleibt es nicht: Sie schlagen ihn über mehrere Stunden, teilweise mit Werkzeugen. Einer der Täter uriniert auf ihn. Nachdem sie Marinus Schöberl stundenlang gequält haben, lassen die Täter ihn zunächst auf dem Grundstück zurück, kommen aber kurz darauf wieder und zwingen den verängstigten Jungen, mit ihnen zu einem ehemaligen LPG-Gelände in der Nähe zu gehen. Dort quälen und erniedrigen sie ihn weiterhin massiv – insgesamt vier Stunden lang. Durch einen Tritt in den Nacken erleidet Marinus Schöberl schließlich eine tödliche Verletzung, röchelt aber noch. Die Täter diskutieren kurz, ob sie einen Arzt holen sollen – doch stattdessen wirft einer von ihnen noch mehrfach einen schweren Betonstein auf Marinus Schöberl. [6] Anschließend werfen sie seinen toten Körper in eine Jauchegrube. [7]

NACH DER TAT

Als Marinus Schöberl nicht nach Hause kommt, beruhigen sich seine Eltern damit, dass er öfter woanders übernachtet. Nach zwölf Tagen meldet seine Mutter ihn doch als vermisst. Doch weder die Täter noch Zeug_innen – wie das Paar, in dessen Haus die Tortur ihren Anfang genommen hat – sagen bei ihrer polizeilichen Vernehmung etwas zu den Geschehnissen vom 12. Juli und zum Verschwinden von Marinus Schöberl aus. Vier Monate lang bleibt unklar, was mit ihm passiert ist.

Mindestens acht Personen haben von der Tat gewusst, doch erst im November 2002 wird Marinus Schöberls Leichnam in der Jauchegrube gefunden – nachdem einer der Täter mit anderen Jugendlichen eine Wette abgeschlossen und damit geprahlt hat, dass er wisse, wo Marinus Schöberl sei. [8] Zusammen mit dem Täter begeben sich die Jugendlichen zur Jauchegrube und finden den Toten. Eine der Jugendlichen erzählt ihren Eltern von dem Fund – diese raten ihrer Tochter ab, die Polizei zu informieren. Einen Tag später kehren die Jugendlichen mit einem guten Freund von Marinus Schöberl zurück. Erst dieser verständigt die Polizei.

DAS VERFAHREN

Zu diesem Zeitpunkt ist M. S., ein bekennender Neonazi, bereits aufgrund einer rassistischen Gewalttat in Haft: Vier Wochen nach dem Mord an Marinus Schöberl hat er in Prenzlau einen Mann aus Sierra Leone mit Knüppel und Schlagring zusammengeschlagen und schwer verletzt. [9] Die anderen beiden Täter werden nach dem Fund des Leichnams festgenommen.

Der leitende Staatsanwalt ist von der rechten Gesinnung der Täter überzeugt: „Sie gehören ganz deutlich der extremen rechtsradikalen Szene an.“ Ihre Tat, so der Staatsanwalt weiter, sei „so furchtbar, dass wir sie auch nicht ansatzweise in der Öffentlichkeit preisgeben können“. [10] Am 24. Oktober 2003 verurteilt das Landgericht den 18 Jahre alten M. S. wegen Mordes und gefährlicher Körperverletzung zu einer Jugendstrafe von acht Jahren und sechs Monaten. Sein sechs Jahre älterer Bruder M. S. wird wegen versuchten Mordes und anderer Delikte zu 15 Jahren Haft verurteilt. Der zum Tatzeitpunkt 17 Jahre alte S. F. erhält u.a. wegen gefährlicher Körperverletzung eine Jugendstrafe von zwei Jahren. In seiner Urteilsbegründung stellt das Gericht fest, dass die beiden Brüder bei der Tat ihrer rechten Einstellung gefolgt seien. Mit dem verhängten Strafmaß bleibt das Gericht jedoch weit hinter den Forderungen der Staatsanwaltschaft zurück. Diese hatte für den jüngeren Bruder zehn Jahre, für S. F. neun Jahre und acht Monate und für den älteren Bruder lebenslange Haft gefordert. [11]

Nach einer Revision vor dem Bundesgerichtshof [12] erhöht das Landgericht Neuruppin im Dezember 2004 die Jugendstrafe für S. F. auf drei Jahre. Die Freiheitsstrafe von 15 Jahren für den 26-jährigen M. S. wird bestätigt. [13]

Basierend auf den vorhandenen Informationen geht die Opferperspektive davon aus, dass im Motiv der Täter mehrere Aspekte rechter Ideologie zusammenkamen. Neben dem Antisemitismus, der mindestens tateskalierend eine Rolle gespielt hat, war wahrscheinlich auch die Tatsache von Bedeutung, dass Marinus Schöberl als Angehöriger der Hip-Hop-Szene erkennbar war und auch damit in ein Feindbild der extrem rechten Szene fiel. Da er kognitiv leicht beeinträchtigt war und ein wenig stotterte, ist zudem zu vermuten, dass auch sozialdarwinistische Einstellungen der Täter zu der Gewalteskalation beitrugen.

Nach ihrer Haftzeit sind die Täter teilweise weiter in der rechten Szene aktiv. So stellt zum Beispiel M. S. noch Jahre nach seiner Haft an einer gut gefüllten Badestelle sein Hakenkreuztattoo zur Schau und posiert gemeinsam mit einem der Mörder von Bernd Köhler  auf einem Foto. [14] Er greift wiederholt andere Personen aus menschenfeindlichen Motiven körperlich an – so attackiert er zum Beispiel 2019 einen Mann aus Syrien. [15]

Auch S. F. übt wiederholt rechte Gewalt aus. U.a. bedroht er 2013 in Prenzlau erst einen vietnamesischen Imbissbesitzer und attackiert dann einen Punk. 2017 nimmt er mit einer NPD-Flagge an einer „Mahnwache“ in Brüssow in der Uckermark teil.

DAS GEDENKEN

Im November 2002 findet in Potzlow ein Trauergottesdienst für Marinus Schöberl statt. Anschließend legt u.a. der damalige Ministerpräsident Brandenburgs, Matthias Platzeck, Blumen für ihn nieder. Auf Initiative des Pfarrers wird im Oktober 2003 ein Gedenkstein für Marinus Schöberl am Marktplatz von Potzlow errichtet, nicht ohne Widerstand von einigen Dorfbewohner_innen.

In den Folgejahren finden nur sporadisch öffentliche Gedenkveranstaltungen für Marinus Schöberl in Potzlow statt.

 


[1] Dieter Wunderlich, Marinus Schöberl. Mord in Potzlow.

[2] Rechtsextreme Aktivitäten südlich von Prenzlau, 22.11.2002, erschienen bei Inforiot

[3] Apabiz, Antisemitische Vorfälle 2001 22.12.2021

[4] Antifaschistisches Infoblatt 58 / 4.2002, 14.12.2002, Mord in Potzlow

[5] Dieter Wunderlich, Marinus Schöberl. Mord in Potzlow

[6] Ebd.; Antifaschistisches Infoblatt 58 / 4.2002, 14.12.2002, Mord in Potzlow

[7] Ebd.

[8] Gisela Friedrichsen: „Sag, dass du Jude bist!“, Der Spiegel v. 6.6.2003

[9] Antifaschistisches Infoblatt 58 / 4.2002, 14.12.2002, Mord in Potzlow

[10] Michael Mielke: Die Kinder waren immer sauber und ordentlich gekleidet, Die Welt v. 26.5.2003

[11] Frank Jansen: Staunen über ein Urteil, Tagesspiegel, 26.10.2003 / Die Welt, Mord von Potzlow: Moralisch auf tiefster Stufe, 24.10.2003

[12] Strafe im Mordfall Potzlow verschärft, Welt v. 22.12.2004

[13] Bundesgerichtshof, Urteil vom 19. August 2004, Az. 5 Str 218/04

[14] Antifaschistisches Infoblatt 120 / 3.2018 vom 25.12.2018: Brandenburger Neonazi Mörder ohne Reue?

[15] Opferperspektive: Jahresrückblick 2019 – Brandenburg, 6.1.2020

weitere infos

weiterführende Informationen

Zur falschen Zeit am falschen Ort

„Der Mord gab mir den Anstoß zum Film, aber er sollte keinen zentralen Platz in der Handlung des Filmes einnehmen. Vielmehr hat mich der Alltag und das soziale Miteinander dieser Menschen in diesem Dorf interessiert, wie es hunderte von Dörfern in Deutschland gibt.“ so Tamara Milosevics zu ihrem 65-minütigen Dokumentarfilm zum Umgang mit dem Mord in Potzlow.

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Rivalitäten zwischen Jugendlichen?

Opferperspektive

Warum aber musste Marinus Schöberl sterben? Das öffentliche Entsetzen und Nachdenken ließ einen naheliegenden Zusammenhang fast unbeachtet: Jeder zweite rechte Angriff in Brandenburg trifft einen männlichen Jugendlichen deutscher Staatsangehörigkeit. Von den 140 Opfern rechter Gewalt, die der Opferperspektive im Jahr 2002 bekannt wurden, sind fast die Hälfte deutsche Jugendliche.

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Im Niemandsland der Wahrheit

Annette Ramelsberger

Auch ein Jahr nach dem Geschehen reagieren viele in dem uckermärkischen Dorf mit Hilflosigkeit und Verweigerung auf die Hintergründe der Tat.

Antifaschistisches Infoblatt, 60/2003, 17.6.2003
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